Alte Liebe rostet nicht: ein Europa über den Brexit hinaus
Wiesbaden, Ende Februar. Während im Hessischen Landtag das Plenum tagt, herrscht auf dem Schlossplatz davor unbeschwerte Frühjahrsstimmung. Großbritannien und das Brexit-Chaos scheinen weit weg. Wir fragen Europaministerin Lucia Puttrich im Interview: Wie steht es eigentlich um Europa nach dem Brexit?
Es verspricht ein langer Sitzungstag zu werden, als wir Lucia Puttrich, Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten und Bevollmächtigte des Landes Hessen beim Bund, zum Interview treffen. Die Europaministerin ist konzentriert und auf den Punkt. Kein Monat mehr bis zum offiziellen Austrittsdatum Großbritanniens aus der Europäischen Union.
Mit Blick auf die Brexit-Vorbereitungen hessischer Unternehmen zeigt sich die Ministerin zuversichtlich: „Die meisten Unternehmen haben sich schon längst auf den Worst Case eines harten Brexits vorbereitet, weil sie einfach nicht abwarten können, um zu schauen, was dann tatsächlich passiert und ob es nicht doch ganz schlimm kommt.“
Vieles ist möglich – nach wie vor
Worauf sollte man sich nun vorbereiten? Am Tag zuvor stellte die britische Premierministerin Theresa May ihren jüngsten Plan vor, der auch eine Verschiebung des Brexits in den Bereich des Möglichen rückt. Ministerin Puttrich ist deutlich in ihrer Bewertung: „Eine Verschiebung des Brexits macht nur dann Sinn, wenn die Zeit dann auch genutzt wird, um ein entsprechendes Austrittsabkommen zu beschließen. Wenn dies nicht geschieht, macht auch die Verschiebung keinen Sinn.“
Bei aller Nüchternheit, die der Blick auf die Brexit-Verhandlungen mit sich bringt, wird deutlich, dass auch in der Politik gilt: Solange es keine klare Ziellinie gibt, müssen Brexit-Vorbereitungen alle möglichen Szenarien abdecken. Ganz konkret in Maßnahmen wie dem Brexit-Übergangsgesetz, das am 26. Februar mit einer großen Mehrheit vom Hessischen Landtag beschlossen wurde. Damit regelt Hessen für seine Zuständigkeit, dass Großbritannien für die Übergangsphase, die es mit einem geregelten Brexit geben würde, weiter weitgehend wie ein Mitglied der EU behandelt würde. Das würde helfen, die Konsequenzen des Austritts zu mildern und auch ein Stück weit zu verschieben – im Rahmen der Übergangsfrist.
Mit Blick auf die Entwicklungen in London stellt sich die Frage, ob dies die einzigen realistischen Szenarien sind. Könnte es noch einen anderen Weg geben? „Ausschließen kann man nie etwas, aber ich sehe im Moment nicht, dass es ein erneutes Referendum geben könnte, dafür gibt es im Parlament keine Mehrheit“, beurteilt Ministerin Puttrich die Möglichkeit eines weiteren Referendums.
Eine Verschiebung des Brexits macht nur dann Sinn, wenn die Zeit dann auch genutzt wird, um ein entsprechendes Austrittsabkommen zu beschließen.
Unabhängig davon, wie der Brexit sich nun gestaltet, die Auswirkungen werden nicht nur für die Unternehmen, sondern auch für die Menschen in vielen kleinen Details des Alltags spürbar sein. Der Unternehmer, der im EU-Binnenmarkt Handel betreibt, wird seine Lieferketten neu organisieren müssen, der Bürger wird es an den Preisen und Lieferfristen im Onlinehandel und bei Reisen über den Kanal merken: „Ich glaube, dass unterm Strich mehr Menschen von den Folgen des Brexits betroffen sind als zunächst angenommen.“, fasst Ministerin Puttrich zusammen.
Eine Kluft in Großbritannien
Nach dem Brexit-Referendum im Juni 2016 war die erste Reaktion auch bei der Europaministerin Fassungslosigkeit, aber auch das Bewusstsein, dass die Zeit genutzt werden muss, um die Verhältnisse vernünftig zu regeln. Und wenn in der Folge der Blick diesseits des Kanals oft auf die wirtschaftlichen Konsequenzen des Brexits gerichtet war, darf man nicht vergessen, dass die Konsequenzen für den bald ehemaligen EU-Nachbarn auch tiefgreifender gesellschaftlicher Natur sind.
Ich glaube, dass unterm Strich mehr Menschen von den Folgen des Brexits betroffen sind als zunächst angenommen.
Das ist eine Konsequenz, die sich nicht einfach überwinden lassen wird. Und das nimmt man natürlich wahr, bestätigt die Europaministerin ernst: „Es geht ein tiefer Riss durch die Gesellschaft – und vor allem auch durch die Generationen. Junge Menschen in Großbritannien wollen in der Mehrheit die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Für die junge Generation ist die Zugehörigkeit in der EU Lebensalltag und man konnte oft hören, dass diese jungen Menschen sich um ihre Zukunft gebracht fühlen.“
Es sei Aufgabe der britischen Regierung, diese Gräben wieder zu füllen. Den verbleibenden europäischen Staaten sei nicht daran gelegen, diese Gräben zusätzlich zu vertiefen und bestehendes Leiden zu vergrößern.
Europa über den Brexit hinaus
Was bewegt eine Europaministerin an Themen über den Brexit hinaus? Ist der Blick aus der ungewissen Situation heraus noch frei für andere Themen?
Es geht ein tiefer Riss durch die Gesellschaft – und vor allem auch durch die Generationen.
„Es wäre schlimm, wenn keine Zeit für andere Themen bliebe“, sagt Lucia Puttrich. Es gibt ein Europa über den Brexit hinaus. Ein wichtiges Thema sei etwa die Verabschiedung des Mehrjährigen Finanzrahmens. Das ist der langfristige Haushaltsplan der EU, in dem es auch um Mittel geht, die nach Hessen fließen und zeitnah zur Verfügung stehen sollen.
„Hessen ist ein europäisch ausgerichtetes Bundesland“, betont die Hessische Europaministerin. „Da geht es um viele unterschiedliche Aspekte wie den Finanzplatz Frankfurt, Pharmaindustrie und Chemie oder den Bereich der Automobilzulieferungen. Hessen ist Raumfahrt-Standort und verfügt über eine intensive Universitätslandschaft mit vielen, lebendigen wissenschaftlichen Kooperationen. Das sind alles auch europäische Themen, mit denen man sich neben dem Brexit auseinandersetzen muss.“
Hessen ist ein europäisch ausgerichtetes Bundesland.
Es sind bewegte Zeiten für eine Europaministerin. Im Schatten des Brexits und vor der anstehenden Europawahl im Mai ist auch das öffentliche Interesse merkbar gestiegen, bestätigt Ministerin Puttrich: „Europa wird stark diskutiert und befindet sich im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Das ist eine Chance. Ich bin fest davon überzeugt, dass die schweigende Mehrheit eine Europäische Union will und mobilisiert werden muss, zur Europawahl zu gehen und so einer lauten Minderheit nicht die Mehrheit zu geben.“
Es braucht ein neues Europa-Gefühl
Der Brexit gibt den Menschen aber auch die Möglichkeit zu sehen, wie wichtig die Europäische Union ist, wie eng verwoben man miteinander ist und welche Bedeutung es hat, dass man in diesem Rahmen zusammenhält. Ein Zusammenhalt, den viele bezweifelt haben, den die EU-27 in den Brexit-Verhandlungen aber eindrucksvoll unter Beweis stellten. „Das ist meines Erachtens ein guter Weg, ein gutes Zeichen, weil wir im internationalen Wettbewerb eine Europäische Union mit einer starken Stimme brauchen“, betont Ministerin Puttrich.
Es sei eine wichtige und positive Lektion aus dem Brexit-Prozess, dass es ein Bewusstsein für die Bedeutung der Europäischen Union gibt. Daneben müsse der Austausch der europäischen Länder untereinander mit Rücksicht und Verständnis für unterschiedliche politische und historische Kontexte geführt werden.
„Wir müssen sorgsam mit der europäischen Partnerschaft umgehen, sie pflegen und uns dessen bewusst sein, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist. Wir müssen die Positionen der anderen Mitgliedsstaaten verstehen und darauf eingehen. Und wir müssen die Lektion lernen, dass es ausgesprochen schwierig ist, politisch und emotional aufgeladene Entscheidungen dieser Tragweite in einem Referendum zu beschließen“, schlussfolgert Ministerin Puttrich.
Europa wird stark diskutiert und befindet sich im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Das ist eine Chance.
Hilft der Blick zurück für das, was nun kommt? Die Antwort von Ministerin Puttrich macht deutlich, dass es neben allen faktenbasierten Diskussionen und Voraussagen auch weniger greifbare, emotionale europäische Beziehungen gibt, die es nun zu stärken gilt: „Es ist nicht weiterführend, zu stark in die Rückschau zu gehen und zu fragen, was man hätte anders machen können. Das ist aus der heutigen Position heraus nicht hilfreich. Ich stelle mir stattdessen die Frage, wie gehen wir in der Europäischen Union miteinander um? Wir müssen immer wieder formulieren, was uns zusammenhält, was unsere gemeinsamen europäischen Werte sind und wie wir im internationalen Wettbewerb stehen wollen. Wenn wir dadurch eine Klammer schaffen, fängt das auch Unterschiede auf und fördert die Integration. Über diese inhaltliche Klammer müssen wir mehr reden als in der Vergangenheit. Die Europäische Union ist mehr als Binnenmarkt, sie ist mehr als wirtschaftlicher Erfolg. Die Europäische Union ist ein großes Friedensprojekt in einer Welt, in der kein Land für sich allein erfolgreich sein kann, sondern in der wir nur durch Geschlossenheit in einer starken Gemeinschaft im internationalen Wettbewerb bestehen können.“
Die Europäische Union ist ein großes Friedensprojekt in einer Welt, in der kein Land für sich allein erfolgreich sein kann, sondern in der wir nur durch Geschlossenheit in einer starken Gemeinschaft im internationalen Wettbewerb bestehen können.

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