Brexit-Übergangsfrist: Das Ende ist auch nur ein Anfang
Dr. Jürgen Ratzinger hat den Brexit-Prozess von Anfang an, seit Sommer 2016, in all seinen Phasen begleitet: mal hektisch, mal ruhig. Jetzt, da die Wochen bis zum Ende der Übergangsphase an zwei Händen abzuzählen sind, traf Dr. David Eckensberger, Abteilungsleiter Internationale Angelegenheiten der Hessen Trade & Invest GmbH, Dr. Ratzinger remote zu einem Gespräch, das differenziert zurück aber auch pragmatisch in die Zukunft blickt.
Dr. Eckensberger: Herr Dr. Ratzinger, der Brexit begleitet Sie thematisch von Anfang an. Können Sie sich noch erinnern, wie es damals war, nach dem Referendum im Sommer 2016?
Das war natürlich eine Premiere und nicht nur wir bei der IHK Frankfurt haben uns gefragt: Was bedeutet das, wenn ein Mitgliedsstaat sich entschließt, die Europäische Union zu verlassen? Das hatte es zuvor so nicht gegeben. Seit Einführung des EU-Binnenmarktes 1993 haben wir eigentlich einen Vertiefungsschritt nach dem anderen erlebt und jetzt tritt auf einmal ein ganz wichtiger Handelspartner aus. Die ersten Fragen waren dann für uns, welche Austrittszenarien möglich sind und auf welchen vielfältigen Ebenen sich das auf deutsche, auf hessische Unternehmen auswirkt. Aber insgesamt lief das alles sehr langsam an nach dem Brexit-Referendum. Es war erst einmal ein Abwarten, es standen ja auch anfangs keine Fristen fest. Die drängenden Fragen kamen später, nachdem die damalige Premierministerin Theresa May den Artikel 50 der Lissabonner Verträge aktiviert und den Austrittsprozess angestoßen hatte.
Dr. Eckensberger: Sie erwähnten die drängendsten Fragen – was waren Themen, die Unternehmen beschäftigt haben und vielleicht bis heute beschäftigen? Es gibt ja immer wieder neue Veranstaltungsformate, wie etwa die anstehende Brexit-Week, die ja auch von der HTAI, dem hessischen Wirtschaftsministerium und dem Enterprise Europe Netzwerk unterstützt wird. Das heißt, es gibt noch Klärungsbedarf?
Wir haben früh versucht ein Bewusstsein für die vielfältigen Dimensionen des EU-Austrittes zu schaffen und haben angeregt, sich mit dem Thema zu beschäftigen: Zollregelungen, Logistikfragen, Finanzmärkte, Mitarbeiterentsendung, um nur ein paar zu nennen. Gerade der Aspekt der Mitarbeiterentsendung und die Situation von Mitarbeitern aus Drittländern, etwa aus Osteuropa, hat von Anfang an viele Unternehmen mit Geschäftstätigkeit in Großbritannien beschäftigt. Wir haben dann im November 2016 die erste Veranstaltung zu dem Thema bei uns abgehalten und tun dies seitdem kontinuierlich.
So auch jetzt im November: Ende des Monats, vom 23. bis 30. November, startet die besagte Brexit-Week mit einer Vielzahl von Web-Seminaren. Den Auftakt macht am 23.11. eine virtuelle Podiumsdiskussion in Zusammenarbeit mit dem hessischen Wirtschaftsministerium und dem britischen Generalkonsulat zum Thema „Brexit 2.0: Endet mit der Übergangsphase auch die Odyssee?“ Die Podiumsdiskussion ist eine gute Momentaufnahme des Brexit-Prozesses für alle Interessierten, und dann geht es im Lauf der Woche in den Web-Seminaren tiefer in die Themen, die Veränderungen für das UK-Geschäft hessischer Unternehmer nach Ablauf der Übergangsfrist am 1. Januar 2021 bedeuten.
Klar ist im Moment vor allem, was nicht geklärt ist.
Dr. Eckensberger: Sie sprachen gerade von einer Momentaufnahme – wo stehen wir, so kurz vor Ende der Übergangsfrist, im Brexit-Prozess und was gilt es jetzt zu bedenken?
Klar ist im Moment vor allem, was nicht geklärt ist: Es ist noch immer nicht geklärt, wie die neuen Beziehungen zwischen der EU-27 und dem Vereinigten Königreich aussehen werden. Klar ist eigentlich auch, dass in der verbleibenden Zeit kein besonders tiefgehendes Handelsabkommen mehr möglich sein wird. Wahrscheinlicher ist die eventuelle Einigung auf ein schlankes Abkommen, in dem das Nötigste adressiert wird, wie ein Verzicht auf Zollsätze.
Sicher ist auch, dass die Dinge sich nun ändern werden, und darauf haben sich die Unternehmen, gerade auch die großen, eingestellt. Die meisten Unternehmen mit Großbritannien-Geschäft haben Weichenstellungen vorgenommen, etwa indem das Wissen um Zollthemen vertieft wurde. Es ist ja auch kein ganz unbekanntes Terrain: Nach der Übergangsphase wird Großbritannien ein Drittstaat, das ist eine bekannte Größe für viele Unternehmen mit Auslandsgeschäft außerhalb der EU. Dennoch, wir bleiben dabei und schärfen weiterhin das Bewusstsein für die Themen, die sich nach der Übergangsphase ganz sicher ändern werden und die es im Blick zu behalten gilt. Dazu gehören etwa das gewerbliche Schutzrecht oder die Frage von Standards, das sind Bereiche, in denen Großbritannien sich abkoppeln wird von der EU. Aber auch in der Logistik oder generell bei der Zusammenarbeit mit Dienstleistern wird sich die Frage stellen: Habe ich hier noch die richtigen Partner? Braucht es eventuell neue Dienstleister? Diese Themen gilt es im Blick zu behalten, genauso wie etwa auch Steuerthemen. Und da möchte ich noch einmal auf unsere bevorstehende Brexit-Week verweisen: Das sind Themen, in die wir in den Web-Seminaren tiefer einsteigen, einfach weil wir gerade jetzt, so kurz vor Ablauf der Übergangsfrist, das Bewusstsein dafür noch einmal stärken möchten. Und der Rücklauf an Anmeldungen zeigt uns, dass das Interesse trotz vieler anderer ebenfalls drängender Themen nach wie vor ungebrochen ist.
Meine Hoffnung ist, dass bei beiden Parteien das gemeinsame Bewusstsein bestehen bleibt, wie wichtig diese wirtschaftlichen Beziehungen sind.
Dr. Eckensberger: Haben Sie mit Blick auf die zukünftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU einen Wunsch?
Wir müssen die Marktpotenziale im Blick behalten. Das Vereinigte Königreich wird ein wichtiger Markt in der Welt und ein wichtiger Partner bleiben. In Hessen allein sind wir über die Automobil- und Pharmaindustrie stark verbunden. Wir bleiben weiterhin in einem fließenden Prozess, der nicht erst am 1. Januar 2021 beginnt oder endet. Auch das Thema Handelsabkommen ist dann nicht beendet.
Mein Wunsch, meine Hoffnung ist, dass bei beiden Parteien, sowohl auf der Seite der EU als auch auf der Seite Großbritanniens, das gemeinsame Bewusstsein bestehen bleibt, wie wichtig diese wirtschaftlichen Beziehungen sind. Und dass dieses Bewusstsein dazu führt, dass man auch weiterhin bemüht ist, möglichst wenig Hindernisse zu schaffen und eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit zu stärken, die die Beziehungen auf ein festes Fundament stellt. Wir sind ja nicht nur wirtschaftlich, sondern sind auch historisch, mit Blick auf Werte und bei vielen anderen Themen, ganz eng beieinander.
Herr Dr. Ratzinger, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Zur Person
Dr. Jürgen Ratzinger ist Geschäftsführer des Geschäftsfeldes International bei der IHK Frankfurt am Main und Sprecher des Beirats für Standortmarketing und Außenwirtschaftsförderung der Hessen Trade & Invest GmbH. In dieser Funktion hat er immer eine doppelte Perspektive auf die Geschehnisse: Was passiert im Ausland, und was heißt das für Unternehmen in Hessen und Deutschland?

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