Der Anfang nach dem Ende
Tränen des Abschieds und unverhohlene Freude – am 31. Januar 2020 spielten sich sowohl im EU-Parlament als auch in Großbritannien sehr unterschiedliche Szenen ab. Ganz gleich, wie man dazu stehen mag: Der Brexit ist vollzogen. Nun müssen die künftigen Beziehungen zwischen London und der EU neu geklärt werden. Das Tauziehen kann beginnen.
Seit unserem letzten Brexit Update im November hat sich einiges getan. Die Konservative Partei um Boris Johnson war bei den vorgezogenen Neuwahlen am 12. Dezember der eindeutige Gewinner. Mit der neuen Abgeordneten-Mehrheit im Parlament wurde das Austrittsabkommen Mitte Januar abschließend verabschiedet. Auch die EU unterzeichnete wenig später das Abkommen und machte so den Weg frei für den Brexit am 31. Januar. Unmittelbar mit dem Brexit trat die vereinbarte Übergangsfrist bis zum Jahresende in Kraft, in der sich praktisch nichts ändert. Nun liegt es an EU-Verhandlungsführer Michel Barnier und der britischen „Taskforce Europe“ unter der Leitung von David Frost, die zukünftigen Beziehungen neu zu regeln.
Viel Arbeit, wenig Zeit
Tatsächlich liegen gleich mehrere schwierige Anfänge nach dem Ende der EU-Mitgliedschaft vor Boris Johnson. Nicht nur, dass er den aus seiner Sicht bestmöglichen Deal für sein Land aushandeln will. Er muss Großbritannien vor allem wieder zusammenführen. Nach wie vor geht ein tiefer Riss quer durch alle Landesteile und Bevölkerungsschichten – Remainers und Leavers stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber. Zudem werden aus Schottland die Rufe nach einem erneuten Unabhängigkeits-Referendum lauter. Und selbst Nordirland sieht die Wiedervereinigung mit der Republik Irland als Option. Am Ende könnte der Brexit also für Großbritannien genau das Gegenteil von dem bewirken, was das eigentliche Ziel war: ein Auseinanderfallen der Nation statt eine Rückkehr zu alter Größe.
Die EU darf nicht siegessicher sein
Liegen also alle Trümpfe bei der EU? Dieser Eindruck täuscht. Denn es gibt ein Szenario, dass man in Brüssel sicher mit Sorge sieht: Großbritannien könnte zum Singapur der Nordsee werden. Dahinter steckt die Annahme, dass Boris Johnson auf eine völlige Liberalisierung setzt. Das Ergebnis könnte ein Großbritannien sein, dass ähnlich wie Singapur dank niedriger Steuern und geringer Restriktionen für Unternehmen attraktiver als die EU wird. Auch der ungeregelte Brexit könnte als Druckmittel gegen die EU eingesetzt werden. Nicht nur Hessens Europaministerin Lucia Puttrich hält das No-Deal-Szenario nach wie vor für denkbar: „Natürlich sind die verbalen Muskelspiele in London und Brüssel, die wir jetzt erleben, Teil des Rituals, aber ich warne davor, sich in Sicherheit zu wiegen: Der ungeregelte Brexit zum Ende der Übergangsphase ist eine reale Gefahr, auf die wir uns weiter vorbereiten.“
Die kurze Verhandlungszeit von nur elf Monaten könnte dabei eher ein Vorteil für Großbritannien sein. Während die EU sehr daran interessiert sein sollte, einen geregelten Brexit zu realisieren, drohte Boris Johnson schon damit, dass er die Übergangsfrist auf keinen Fall verlängern werde.
Der ungeregelte Brexit zum Ende der Übergangsphase ist eine reale Gefahr.
Deutsche Exporte nach Großbritannien brechen ein
Die weiterhin unklaren zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen hinterlassen tiefe Spuren in der Exportstatistik. Von Januar bis November 2019 wurden Waren im Wert von 73,6 Milliarden Euro nach Großbritannien exportiert – drei Milliarden Euro beziehungsweise vier Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Eric Schweitzer, spricht von einem historischen Einschnitt: „Die Übergangsphase bis Ende des Jahres mindert den Druck für die deutschen Unternehmen zwar etwas, die wirtschaftlichen Verwerfungen sind jedoch bereits heute sichtbar.“
So sei Großbritannien innerhalb der vergangenen drei Jahre von Platz fünf auf Platz sieben der wichtigsten Handelspartner Deutschlands gerutscht.
Ist CETA ein Vorbild? Oder Superman?
Es wird spekuliert, dass Boris Johnson das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen CETA als Blaupause für die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU sieht. Klar ist, dass Johnson einen größtmöglichen Zugang zum EU-Binnenmarkt anstrebt, sich jedoch nicht vertraglich auf EU-Standards festlegen will. Er versteht sich als Kämpfer für den weltweiten Freihandel und vergleicht seine Regierung gar mit Superman: „In diesem Moment braucht es eine Regierung, die die Clark-Kent-Brille abnimmt, in die Telefonzelle springt und den Menschen mit Superkräften und wehendem Umhang das Recht auf freien Handel bringt.“ Wer am Ende als Held dasteht, wird sich in den nächsten elf Monaten zeigen.
Die wirtschaftlichen Verwerfungen sind bereits heute sichtbar.

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