Der Brexit auf der Zielgeraden – gibt’s am Ende nur Verlierer?
Die Brexit-Übergangsphase endet unweigerlich Ende 2020. Dann scheidet Großbritannien aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion aus. Ohne Austrittsvertrag drohen Zölle und andere Hürden für die Wirtschaft. Dennoch wird der No-Deal-Brexit immer wahrscheinlicher – allein aus Zeitmangel.
Der Brexit fühlt sich an wie ein Marathon, bei dem die Laufstrecke nicht nur verlängert, sondern zusätzlich mit vielen Hindernissen bestückt wurde. Obwohl die Beteiligten vor einiger Zeit mit dem erfolgreich verhandelten Austrittsvertrag zum Zwischenspurt ansetzten, scheint dem geregelten Brexit auf der Zielgeraden die Puste auszugehen.
Briten ändern den Vertrag und verspielen Vertrauen
Für viele völlig überraschend kündigte Premierminister Johnson an, mit dem britischen Binnenmarktgesetz (UK Internal Market Bill) Teile des Austrittsvertrags außer Kraft zu setzen. Die EU wertete das Gesetz, das mit einer überraschend deutlichen Mehrheit im britischen Unterhaus verabschiedet wurde, als Vertrauensbruch und Verstoß gegen internationales Recht. David McAllister, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im Europäischen Parlament, bestätigte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: „Das UK Internal Market Bill hat die Verhandlungen erheblich belastet.“
Boris Johnson geht es mit dem Gesetz wieder einmal vorrangig um Nordirland. Hatte Johnson im Austrittsvertrag noch die engere Anbindung Nordirlands an die EU akzeptiert, wird das durch sein Binnenmarktgesetz wieder geändert. Obwohl die EU daraufhin ein Verfahren einleitete, das letztlich vor dem Europäischen Gerichtshof enden könnte, gingen die Verhandlungen weiter – teilweise sogar auf höchster Ebene zwischen Johnson und EU-Präsidentin Ursula von der Leyen. Konkrete Fortschritte wurden allerdings nicht erzielt.
Das UK Internal Market Bill hat die Verhandlungen erheblich belastet.
Corona als Bremse
Es liegt mit Sicherheit auch an der Corona-Pandemie, dass sich die Verhandlungen lange Zeit so schwierig gestalteten. Das Eindämmen des Virus zog nahezu alle Aufmerksamkeit und Ressourcen auf sich. Auch das Binnenmarktgesetz könnte eine Folge von Corona sein. Gut möglich, dass Boris Johnson damit Sympathien zurückgewinnen und innenpolitisch seine Position stärken wollte, nachdem sein Schlingerkurs in der Pandemie-Bekämpfung zunehmend kritisiert wurde.
JP Morgan verlagert 200 Mrd. Euro nach Frankfurt
Während die Politik zaudert, schafft die Wirtschaft Fakten. Nachdem der Finanzstandort Frankfurt ohnehin schon als einer der Gewinner des Brexit feststand, wandern nun weitere Vermögenswerte von London an den Main. Informierten Kreisen zufolge verlagert die US-Bank JP Morgan 200 Milliarden Euro zur Frankfurter Tochtergesellschaft. Damit würde JP Morgan zum sechstgrößten Kreditinstitut in Deutschland aufsteigen.
US-Wahl als Beschleuniger?
Der Präsidentenwechsel in den USA könnte die Chancen auf einen Deal erhöhen. Wahlsieger Joe Biden ist der EU zugetan – im Gegensatz zum Brexit-Anhänger Donald Trump, der ein lukratives Handelsabkommen mit Großbritannien im Sinn hatte. Der Fraktionschef der Schottischen Nationalpartei (SNP) im britischen Parlament, Ian Blackford, forderte Johnson auf, dass er über seinen Ruf als „Großbritanniens Trump“ nachdenken sollte. Johnson hätte sich mit seiner Politik von der Weltbühne isoliert. Wörtlich schrieb er bei Twitter: „I hope Boris Johnson is reflecting on the way he’s isolated himself and the UK on the world stage. He’s alienated Scotland and the devolved nations, he’s alienated Europe with an extreme Brexit, and he’s alienated the United States by siding so closely with Trump.“
Und wie geht’s weiter?
Bisher wurde von beiden Seiten stets betont, dass bis spätestens Ende Oktober ein Deal stehen muss, damit noch ausreichend Zeit ist, diesen durch die Parlamente zu ratifizieren. Ende Oktober ist allerdings ohne Deal verstrichen. Wahrscheinlich sind nun zwei Szenarien: der ungeregelte Brexit, der allerdings weder von der EU noch von den Briten gewollt sein kann, auch wenn Boris Johnson diese Lösung immer wieder als durchaus praktikabel darstellt. Das zweite Szenario wäre ein begrenztes Freihandelsabkommen, sozusagen ein Deal light. Dies würde jedoch verglichen mit der Zeit vor dem Brexit sehr wahrscheinlich erhebliche Handelsbarrieren zwischen der Insel und der Europäischen Union schaffen. Branchen, die auf reibungslose grenzüberschreitende Lieferketten angewiesen sind, sowie der Dienstleistungssektor im Allgemeinen würden davon besonders stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Zeit rennt also. Das Ziel ist in Sicht – bleibt die Frage, ob es mit oder ohne Deal überquert wird.
I hope Boris Johnson is reflecting on the way he’s isolated himself and the UK on the world stage.

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