Zurück in die Warteschleife? Der Brexit in der Coronakrise
Wenn es ein Thema gibt, das aktuell über Grenzen hinweg vereint, ist es die Coronakrise. Doch was, wenn eine solche Erschütterung auf eine Gesellschaft trifft, die längst zu viele offene Fragen zu bewältigen hat? Wie Großbritannien, das gezeichnet ist vom Brexit-Chaos der vergangenen Jahre. Wie sind die Reaktionen auf der anderen Seite des Kanals und was bedeutet diese alles verändernde Ausnahmesituation für die Brexit-Verhandlungen?
So wirklich entspannt hatte sich die Brexit-Lage eigentlich nie. Auch nach dem Stichtag 31. Januar, an dem die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU ein Ende fand, blieb der Brexit-Prozess angespannt und zeitkritisch. Verschärft wird diese Lage nun durch die Coronakrise. Und manch einer fühlte sich in der Reaktion der britischen Regierung auf die Pandemie vielleicht an wankelmütige Momente während des Brexit-Prozesses erinnert. Lange gab es nichts Konkretes, die Pandemie-Pläne waren unklar, Schreckensszenarien wurden ebenso kommuniziert wie Überlegungen zum strittigen Ansatz der Herdenimmunität. Spätestens seit dieser Woche ist aber auch in Großbritannien die Gangart härter und die Insel – und mit ihr der Brexit-Prozess – stehen im Zeichen von COVID-19.
Wie viel Brexit geht noch?
Noch ändert sich ja de facto nichts, bis zum Jahresende bleibt Großbritannien Mitglied des EU-Binnenmarkts und der Zollunion. Eine Übergangsphase, die maximal um zwei Jahre verlängert werden kann. Eine Verlängerung würde Brüssel gerne gewähren, aber London hat sie abgelehnt und gedroht, Gespräche platzen zu lassen, sollte Brüssel bis Juni nicht in einigen Punkten Zugeständnisse machen. Doch die Fristverlängerung wird immer wahrscheinlicher, die Lage im Vereinigten Königreich ist angespannt und ob die britische Wirtschaft nach der Coronakrise noch einen ungeordneten Brexit verkraften kann, ist fraglich.
Nun ist es eigentlich an der Zeit, zusammenzurücken und produktiv nach Wegen aus der Krise zu suchen, sagt auch der Hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir: „Das Corona-Virus lässt sich von Grenzen nicht aufhalten. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass die EU und das Vereinigte Königreich diese Krise gemeinsam meistern und weiterhin besonnen verhandeln. Auch ohne die Aussicht auf einen harten Brexit wird die wirtschaftliche Situation in den kommenden Monaten noch schwierig genug.“
Eine vorerkrankte Wirtschaft
Die Coronakrise hat neben den gesundheitlichen auch soziale und vor allem wirtschaftliche Folgen, die direkt mit dem Brexit in Zusammenhang stehen. Und auch, wenn die Pandemie-Auswirkungen das Land zeitlich auch etwas verzögert treffen, die Lage ist keine entspannte. Im Gegenteil: Wäre das Land ein Patient, würde man es wohl eher einer Risikogruppe zuordnen: besonders geschwächt und, dank Brexit, vorerkrankt. Das staatliche britische Gesundheitssystem wurde in der Vergangenheit an der kurzen finanziellen Leine gehalten und droht nun, an den Auswirkungen der Pandemie zu scheitern. Neben mangelnder technischer Ausrüstung und unzureichender Strukturen ist es aber auch der Mangel an Ärzten und Pflegekräften, eine Folge des Brexits, der das Land jetzt empfindlich treffen könnte. Viele Pflegekräfte, gerade aus Osteuropa, haben das Land nach dem EU-Austritt Großbritanniens verlassen, ein Verlust, der bis heute nicht ausgeglichen wurde und jetzt schmerzen könnte.
Und nun?
„Get Brexit done“ – das war Boris Johnsons Wahlslogan. Wie schnell diese Forderung umgesetzt werden kann, ist nicht mehr klar. Aus Brüssel signalisiert man Entgegenkommen. David McAllister, Brexit-Beauftragter des Europaparlaments, sagte noch vor wenigen Tagen: „Auf europäischer Seite waren und sind wir bereit, die Übergangsphase bis maximal Ende 2022 zu verlängern.“ Und auch die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley, mahnte: „Ein immer noch drohender harter Brexit mit chaotischen Zuständen und wirtschaftlichen Einbußen ist zum jetzigen Zeitpunkt eine unnötige Belastung für beide Seiten. Deshalb sollte die Übergangsphase frühzeitig verlängert werden.“ Noch dominieren dieser Tage die Maßnahmen gegen eine Ausbreitung des Corona-Virus die britische Politik. Aber der Brexit-Prozess hat gezeigt: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben und so wird es bald ein Zeichen aus London geben müssen, wie der neue Zeitplan für die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU aussieht.
Ich hoffe von ganzem Herzen, dass die EU und das Vereinigte Königreich diese Krise gemeinsam meistern und weiterhin besonnen verhandeln. Auch ohne die Aussicht auf einen harten Brexit wird die wirtschaftliche Situation in den kommenden Monaten noch schwierig genug.

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