@HTAI, 16.03.2022 Hessen Trade & Invest

Der Erfolg lässt auf sich warten

Es fällt momentan schwer, die wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexit zu beurteilen – schließlich wird vieles durch die Coronapandemie und den Ukraine-Krieg überlagert. Eines lässt sich aber mit ziemlicher Sicherheit sagen: Gewinner gab es beim Brexit bisher nur wenige.

Reflexion von Big Ben in einer Pfütze
Stimmung getrübt: Die britischen Erfolgsversprechen sind bisher ins Wasser gefallen. © istockphoto.com/ ROMAOSLO

Es sei ein Jubiläum, bei dem der deutschen Wirtschaft nicht nach Feiern zumute sei – so formulierte es Joachim Lang, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) Ende 2021, zwei Jahre nach dem offiziellen Austritt Großbritanniens aus der EU. Seitdem haben sich laut BDI die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Insel und Deutschland dramatisch verschlechtert. Die Briten seien auf der Rangliste der deutschen Exportpartner von Rang fünf auf den achten Platz abgerutscht.

Handel mit der EU geht deutlich zurück

Diese eher düstere Entwicklung untermauern Zahlen des Münchner Ifo-Instituts, das die Handelsbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU untersuchte. Danach sank der Anteil Großbritanniens an den Exporten der 27 verbliebenen EU-Länder zwischen 2015 und 2021 von 7,1 auf 5,2 Prozent. Die Importquote sank gleichermaßen: von 4,4 Prozent im Jahr 2015 auf nur noch 2,6 Prozent im vergangenen Jahr. Der Grund für den zahlenmäßigen Rückgang ist vor allem die Konzentration auf andere Beschaffungs- und Absatzmärkte. Es wird in der europäischen Wirtschaft also insgesamt nicht unbedingt weniger gehandelt, sondern nur mit anderen Partnern. Die seit Januar 2022 geltenden neuen Importkontrollen Großbritanniens für Produkte aus der EU dürften diesen Trend wahrscheinlich verfestigen.

Hessen profitiert in einigen Bereichen vom Brexit

Für hessische Unternehmen ist eine wirtschaftliche Krise aufgrund des Brexit ausgeblieben. Zum einen, weil auch hier eine Markt-Umorientierung stattfand, und zum anderen, weil die hessische Landesregierung den Brexit von Anfang an intensiv begleitet hat. So profitierten viele Unternehmen von den zur Verfügung gestellten Informationen und den praxisnahen Vorbereitungen auf den Brexit. Es gibt sogar Branchen, für die sich der Brexit wirtschaftlich gerechnet hat. Der Finanzplatz Frankfurt profitierte von der Banken-Abwanderung aus London und auch Hessens starke Logistikbranche reagierte beispielsweise mit dem Aufbau nachgefragter Lagerkapazitäten. „Viele hessische Unternehmen haben ihre Geschäftsaktivitäten ausgebaut und so von den veränderten Marktumständen profitiert“, bestätigt Mark Weinmeister, ehemaliger Staatssekretär für Europaangelegenheiten in Hessen, in seiner Brexit-Bilanz.

Viele hessische Unternehmen haben ihre Geschäftsaktivitäten ausgebaut und so von den veränderten Marktumständen profitiert.

MARK WEINMEISTER, ehemaliger Staatssekretär für Europaangelegenheiten in Hessen

Umfrage: Britische Unternehmen beklagen Schäden

Die Brexit-Euphorie ist in Großbritannien nahezu überall verflogen. Eine Umfrage unter 228 britischen Industrieunternehmen durch den Verband Make UK und die Unternehmensberatung PwC zeigte im Februar 2022 eine trübe Stimmung auf: Zwei von drei Unternehmen gaben an, der Brexit habe ihr Geschäft moderat oder signifikant belastet. Mehr als die Hälfte rechnet auch in diesem Jahr mit negativen Auswirkungen – etwa durch neue Importkontrollen und neue Vorgaben für Kennzeichnungen. Allerdings gibt es auch Optimismus: Drei Viertel der Firmen gehen davon aus, dass sich die Bedingungen in der Zukunft verbessern. Viele glauben auch an bessere Chancen für die heimische Produktion.

Rolle Nordirlands weiterhin ungeklärt

Inwieweit sich der Brexit doch noch zum Guten wenden kann, wird in großem Maße von der Rolle Nordirlands abhängen. Hier ist die Grenzfrage und somit die Zollaußengrenze der EU immer noch nicht abschließend geklärt. Mehr noch: Es scheint, dass sowohl Großbritannien als auch die EU auf ihren Positionen bestehen. Im Mai 2022 finden in Nordirland Regionalwahlen statt. Aktuelle Umfragen zeigen, dass die Sinn-Féin-Partei stärkste Kraft werden könnte – was die Stimmen einer Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland bereits lauter werden lässt. Es bleibt zu hoffen, dass der Brexit auf der irischen Insel nicht einen seit Jahren schwelenden Konflikt neu befeuert.

Premierminister unter Druck

Boris Johnson wird unterdessen nicht müde, den Brexit als großen Erfolg für Großbritannien zu verkaufen. Allein schon, um von seinen innenpolitischen und innerparteilichen Machtkämpfen abzulenken, die um ihn seit der „Corona-Party-Affäre“ immer heftiger toben. So wurde Ende Januar 2022 ein über hundert Seiten dickes Positionspapier (PDF) mit dem Titel „Die Vorteile des Brexit – wie Großbritannien sich den Ausstieg aus der EU zunutze macht“ veröffentlicht.

Darin nimmt die Rubrik „Bisherige Erfolge“ nur 15 Seiten ein – aber schon das scheint ziemlich gestreckt zu sein. Denn als Erfolge werden hier gelistet, dass administrative Hürden im Außenhandel gesenkt und Zollprozesse digitalisiert worden seien. Zudem habe London mit 70 Ländern Handelsabkommen geschlossen. In Wahrheit scheint vieles nur notwendige Schadenbegrenzung zu sein. Vielleicht tauchen auch deshalb immer mehr „einfache“ Erfolgsmeldungen auf, wie zum Beispiel die Wiedereinführung sowohl der blauen Pässe als auch des Pints als Maßeinheit.

Gemeinsam mit der EU gegen Putin

Doch trotz aller Unstimmigkeiten beim Thema Brexit stehen die Briten und die EU im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine geschlossen Seite an Seite und im engen Austausch. So reift bei den Briten angesichts dieser Tragödie in Osteuropa auch die Erkenntnis, dass die EU sehr wohl schnelle Entscheidungen treffen und ein schlagfertiger Akteur sein kann. Ian Bond, Experte bei der Denkfabrik „Centre for European Reform“, betonte daher: „Wenn man Großbritannien in Zukunft schützen will, braucht man die NATO und die EU.“ So ganz ohneeinander wird es also wohl doch nicht gehen.


Quellen:

RND: „Umfrage zum Brexit: Britische Industrie klagt über Belastungen“

RND: „Großbritannien und die EU: wieder Seite an Seite“

Welt: „Der Handel mit der EU bricht ein – doch Johnson feiert kleine Erfolge“

IHK Darmstadt: „Brexit-Bilanz für den Wirtschaftsstandort Hessen“

inFranken.de: „Die irische Grenze: Der Nordirlandkonflikt und der Brexit“

NZZ: „Zwei Jahre EU-Austritt: Mit Schönfärberei hilft Johnson Grossbritannien nicht weiter“

Die Vorteile des Brexit – wie Großbritannien sich den Ausstieg aus der EU zunutze macht

TITEL eines über 100 Seiten starken Positionspapiers der britischen Regierung

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