@HMWEVL, 14.09.2018 Aus der Politik

Der Standort Hessen und der Brexit

Zurücklehnen und Tee trinken? Nicht für hessische Unternehmer mit Blick auf den Brexit, sagt Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir im Interview. Neben aller wichtigen Zuversicht dürfe man doch nicht unterschätzen, wie eng die hessische Wirtschaft mit der britischen verwoben ist. Großbritannien ist einer der wichtigsten Exportmärkte für hessische Unternehmen. Hier steht mit dem Stichtag 29. März 2019 einiges auf dem Spiel.

Tarek Al-Wazir
Tarek Al-Wazir im Gespräch über den Brexit © HMWEVL
Herr Minister, Hessens Wirtschaft ist durch Handel und Investitionen eng mit der britischen Wirtschaft verflochten. Wie wirkt sich hier bislang der Brexit aus?

Während die ausländischen Direktinvestitionen internationaler Anleger im Vereinigten Königreich seit dem Referendum im Sommer 2016 zurückgehen, ist der bilaterale Handel zwischen Hessen und Großbritannien nach dem Volksentscheid eher stabil geblieben. Die britischen Inseln sind einer der wichtigsten Absatzmärkte für die hessische Exportwirtschaft, und das Land ist ein wichtiger Quellmarkt für die Einfuhr nach Hessen. Insgesamt belief sich 2017 unser Volumen bezüglich des Außenhandels mit dem Vereinigten Königreich auf 7,7 Milliarden Euro.

Da kann sich der hessische Wirtschaftsminister doch beruhigt zurücklehnen ...

Das kann er nicht. Aber vor allem die hessischen Unternehmen können das nicht! Die relative Stabilität verdanken wir nur der noch bestehenden EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs mit allen Vorteilen wie der Freizügigkeit für Kapital und Arbeit, dem Binnenmarkt, der Zollunion und dem einheitlichen Rechtsrahmen. Das alles steht zur Disposition, denn vom 30. März 2019 an ist das Vereinigte Königreich nicht mehr Mitglied der Europäischen Union. Und bislang kennt niemand die Bedingungen, die dann unsere wirtschaftlichen Beziehungen bestimmen werden.

Fürchten Sie einen harten Brexit?

Fürchten ja, aber ich bleibe zuversichtlich und zähle auf eine politische Lösung, die die Risiken minimiert und mit einem Freihandelsabkommen den Weg in die Zukunft weist. Doch für diesen Kurs brauchen wir eine schnelle Verständigung. Zwischen der britischen Regierung und der EU-Kommission müssen die Austrittsbedingungen festgelegt und verbindliche Übergangsregelungen vereinbart werden, die über den Austrittstermin hinaus gelten. Gelingt dies nicht, dann müssen wir auch mit einem Hard Brexit rechnen und uns auch darauf einstellen.

Was kann die Landesregierung tun?

Wir setzen den Weg fort, den wir am Tag nach dem britischen Referendum eingeschlagen haben: Wir informieren die hessischen Unternehmen über den aktuellen Verhandlungsprozess, wir bringen ihre Forderungen in die Verhandlungen in Berlin und Brüssel ein, und wir werben in Großbritannien, aber auch in den USA und in den asiatischen Ländern für neue Kooperationen mit der hessischen Wirtschaft. Wenn sich die Marktbedingungen in Europa mit dem Brexit verändern, bieten Kooperationen mit Unternehmen in Hessen für alle Beteiligten attraktive Chancen.

Wird Hessen gar ein Brexit-Gewinner sein?

Nein, der Brexit kostet einen hohen Preis, den wir nicht nur in Hessen, in Deutschland und in der EU bezahlen werden, sondern der insbesondere die wirtschaftliche Zukunft des Vereinigten Königreichs beeinträchtigt. Richtig ist aber auch, dass wir als eines der wenigen Bundesländer nicht nur Risiken, sondern auch Chancen haben, die den Verlust zumindest ausgleichen können. Frankfurts Rolle als europäisches Finanzzentrum wird gestärkt. Wir beobachten auch, dass britische Unternehmen aus der gewerblichen Wirtschaft nach neuen Standorten auf dem Kontinent – auch bei uns in Hessen – suchen. Bislang haben 25 Banken entschieden, dass sie Geschäftsfelder aus London nach Frankfurt verlagern, und zehn Unternehmen der Realwirtschaft aus Großbritannien und anderen Ländern haben sich im Kontext des Brexits in Hessen neu angesiedelt. Gleichzeitig strukturieren hiesige Unternehmen ihre Vertriebswege in Großbritannien neu.

Das hessische Wirtschaftsministerium hat im März 2018 erneut 4.500 hessische Unternehmen zu ihren Einschätzungen befragt. Was sind die wichtigsten Ergebnisse?

Die britischen Inseln sind einer der wichtigsten Absatzmärkte für die hessische Exportwirtschaft.

TAREK AL-WAZIR, Hessischer Minister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung

Die hessischen Firmen haben bei dieser repräsentativen Befragung mehrheitlich klar ihre Prioritäten für die Zeit nach dem Brexit benannt. Erstens: Begrenzung nicht-tarifärer Handelsbarrieren, insbesondere bei Standards, Zulassungen und Verwaltungsverfahren. Zweitens: ein vernünftiges Zollregime ohne Schlangen, Staus und Chaos an den Grenzen. Drittens: dauerhaft gesicherte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse für britische Staatsangehörige in der EU und für EU-Bürger im Vereinigten Königreich.

Was erwarten die befragten Firmen zum Ausgang des Brexits?

Die Skepsis nimmt zu, mehr befragte Unternehmen rechnen auch mit einem harten Brexit als denkbarem Ergebnis. Viele Unternehmen bereiten sich auf unterschiedliche Szenarien vor und entwickeln auch einen Plan B für den Fall des ungeregelten Austritts.

Studie des Wirtschaftsministeriums

Der Eindruck entsteht, dass Sie bei der Bewertung der britischen Positionen zurückhaltend sind ...

Ich sage sehr offen, dass ich mir ein anderes Ergebnis des Referendums gewünscht habe, und das politische Durcheinander in Großbritannien geht ja weiter. Aber ich muss das Votum der britischen Wähler respektieren, und Hessen möchte ein guter Partner bleiben. Es ist ein gutes Signal, dass Premierministerin May die Brexit-Verhandlungen inzwischen zur Chefsache erklärt hat. Deshalb bleibe ich bei der Auffassung: Wir sagen nicht „Thank you and farewell“, sondern „Welcome to Frankfurt, welcome to Hessen“.

Hessen möchte ein guter Partner bleiben.

TAREK AL-WAZIR, Hessischer Minister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung

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