„Eine regelbasierte internationale Ordnung ist keine Selbstverständlichkeit“
Ein neuer König, ein neuer Premierminister, viele alte und neue Probleme – Großbritannien steht, wie auch viele europäische Staaten, vor einem Winter der Herausforderungen. Wir sprachen mit Botschaftsrätin Kathryn Boyd, Landesdirektorin für Handel in Deutschland sowie stellvertretende Handelsbeauftragte für Europa des britischen Ministeriums für Internationalen Handel (DIT), über den neuen Premierminister und die Entwicklung britisch-europäischer Handelsbeziehungen.
Großbritannien blickt zurück auf bewegte Monate. Den Tod von Königin Elisabeth II. im September nahmen viele Menschen in Großbritannien als Zäsur und als Ende einer Ära der Stabilität wahr. Im Oktober dann der Rücktritt von Liz Truss nach nur 45 Tagen als Premierministerin, gefolgt von der Ernennung Rishi Sunaks zum amtierenden Premierminister. All das vor dem Hintergrund der Pandemie-Jahre und einer politischen Weltlage, die geprägt ist von Krieg, Energiekrise und Unsicherheit.
Wie ist die Stimmung in Großbritannien und wie entwickeln sich vor dem Hintergrund dieser Veränderungen die europäisch-britischen Beziehungen? Wir sprachen mit Botschaftsrätin Kathryn Boyd, Landesdirektorin für Handel in Deutschland sowie stellvertretende Handelsbeauftragte für Europa des britischen Ministeriums für Internationalen Handel (DIT), über den neuen Premierminister und Handelsbeziehungen in ereignisreichen Post-Brexit-Zeiten.
Frau Boyd, wer ist Premier Rishi Sunak? Was bedeutet der Wechsel an der Regierungsspitze für das europäisch-britische Verhältnis?
Lassen Sie mich zuerst auf den Kontext, in welchem dieser Wechsel an der Regierungsspitze passierte, eingehen. Wir durchleben im Moment eine Zeit der Unsicherheit. Nach Jahren der vergleichsweise hohen Stabilität müssen wir uns alle neu zurechtfinden. Dafür gibt es Gründe: die Pandemie, den Rückgang der Produktion und Russlands unprovozierten und ungerechtfertigten Krieg gegen die Ukraine. Zusätzlich erlebte Großbritannien dieses Jahr viele politische Veränderungen.
Die wirtschaftlichen Herausforderungen, die wir bewältigen müssen, sind in unseren europäischen Ländern ähnlich. Kurzfristig die Energiekrise, dazu die existierenden Probleme mit Lieferketten. Langfristig teilen wir die Aufgabe, unsere Volkswirtschaften produktiver, grüner und fit für den demographischen Wandel zu machen. Die vielen geopolitischen Unsicherheiten gefährden unsere Wirtschaftsmodelle, die so sehr auf Freihandel und wirtschaftliche Verbindungen setzen. Wir müssen unsere Lieferketten diversifizieren, unsere Volkswirtschaften schützen und dabei eng mit unseren Partnern zusammenarbeiten.
Auch unser neuer Premierminister Rishi Sunak fühlt sich diesen Aufgaben gegenüber verpflichtet. Er hat betont, wirtschaftliche Stabilität und Professionalität ins Zentrum seiner Regierungsarbeit zu stellen. Damit können wir nach vorne schauen. Die grundsätzlichen Ziele britischer Außen- und Europapolitik haben sich nicht verändert; eines davon ist der Ausbau unserer Beziehungen zu Europa und Deutschland. Gerade angesichts unserer geopolitischen Probleme kommt es auf eine enge und belastbare Verbindung zwischen Freunden an.
Die grundsätzlichen Ziele britischer Außen- und Europapolitik haben sich nicht verändert; eines davon ist der Ausbau unserer Beziehungen zu Europa und Deutschland.
Wie steht Premierminister Sunak zu den kritischen Post-Brexit-Themen (bspw. Nordirland-Protokoll)?
Die Priorität des Premierministers liegt darin, die Themen des Nordirland-Protokolls auf der Basis von noch immer andauernden Gesprächen auf offizieller Ebene zu klären.
Sollte dies jedoch zu keinem Ergebnis führen, unterstützt der Premierminister die Gesetzgebung, welche eingeführt wurde, um sicherzustellen, dass die ernstzunehmenden Probleme mit dem Protokoll gelöst werden können, welche das Karfreitagsabkommen untergraben haben.
Die Priorität des Vereinigten Königreichs ist es, das Karfreitagsabkommen zu schützen, und unser Fokus liegt weiterhin darin, Stabilität in Nordirland zu bewahren.
Es ist unangemessen, dass der Europäische Gerichtshof der finale Vermittler von Recht und Gesetz in Nordirland ist, und unsere Präferenz besteht darin, diesen Konflikt durch andauernde Gespräche beizulegen.
Mit Blick auf die Auswirkungen des Brexit: Welchen Herausforderungen muss sich der neue Premierminister jetzt stellen?
Der Austritt aus der Europäischen Union ermöglicht es Großbritannien, seinen eigenen Weg als unabhängige Handelsnation zu gehen. Wir wissen aber auch, dass die EU nach wie vor unser größter Handelspartner ist und wahrscheinlich auch bleiben wird. Wir legen großen Wert darauf, unsere starken Beziehungen zu Europa zu erhalten und weiter auszubauen.
Deutschland spielt hier eine Schlüsselrolle. Es ist weltweit der zweitgrößte Handelspartner des Vereinigten Königreichs. Rund 1.400 britische Unternehmen haben Niederlassungen in Deutschland und beschäftigen hier 280.000 Arbeitskräfte.
Das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ist das ehrgeizigste Freihandelsabkommen, das die Europäische Union je unterzeichnet hat. Es garantiert einen weitreichenden, umfassenden und zuverlässigen gegenseitigen Marktzugang.
Natürlich mussten sich die Unternehmen nach dem Brexit auf die neue Situation einstellen. Im November letzten Jahres hat Großbritannien eine aktualisierte Exportstrategie auf den Weg gebracht, um Unternehmen in allen Phasen des Exportprozesses zu unterstützen, zum Beispiel wenn sie bei der Anpassung an die Veränderungen nach dem Brexit Hilfe benötigen. Wir stellen jedoch fest, dass sich die Unternehmen inzwischen auf die neue Situation eingestellt haben. Die Zahl der Anträge auf Unterstützung, z. B. bei verwaltungstechnischen Problemen, ist deutlich zurückgegangen.
Das britische Ministerium für Internationalen Handel (DIT) unterstützt die Unternehmen beim Export, beseitigt Markthindernisse und fördert Investitionen. In Deutschland haben wir in der britischen Botschaft in Berlin und den Generalkonsulaten in Düsseldorf und München ein Team von 35 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Deutsche Unternehmen, die Handels- und Investitionsbeziehungen zu Großbritannien unterhalten oder aufbauen möchten, können sich hier kompetent beraten lassen – ob es um die Handelspolitik, Handelsförderung oder finanzielle Fragen geht.
Unser intensiver Einsatz für die Ukraine und osteuropäische Partner zeigt: Wir sind und bleiben ein selbstverständlicher Teil Europas, das hat sich nie geändert.
Wo sehen Sie besondere Herausforderungen und wo aber auch besondere Stärken in der britisch-europäischen Beziehung, auf die wir uns besinnen sollten?
Mit der Europäischen Union teilen wir viele gemeinsame Werte und Interessen: Frieden, Sicherheit, Wohlstand, offene, nachhaltige Märkte, den Kampf gegen den Klimawandel und eine regelbasierte internationale Ordnung, die, wie wir alle leider zurzeit durch Russlands Krieg in der Ukraine erfahren, keine Selbstverständlichkeit ist.
Unser intensiver Einsatz für die Ukraine und osteuropäische Partner zeigt: Wir sind und bleiben ein selbstverständlicher Teil Europas, das hat sich nie geändert. Nicht nur wegen Russlands Krieg stehen unsere Länder vor ähnlichen wirtschaftlichen Herausforderungen. Auch in Bezug auf die Energiekrise sind wir in engem Austausch, um über Wintervorbereitungen zu sprechen. Wir können nicht länger auf die Widerstandsfähigkeit von globalen Lieferketten vertrauen. Wir müssen in all diesen Aspekten weiterhin eng mit unseren G7- und europäischen Partnern zusammenarbeiten.
Ein anderes Beispiel unserer engen internationalen Zusammenarbeit ist der Klimaschutz. Er bleibt eine der Prioritäten der britischen Regierung. Wir waren vor einem Jahr in Glasgow Gastgeber der Weltklimakonferenz, den Vorsitz haben wir nun an Ägypten übergeben. In Sharm el-Sheikh arbeiten wir eng mit unseren europäischen Partnern zusammen, um die weitreichenden Zusagen von Glasgow zu erfüllen: die Erreichung des 1,5-Grad-Ziels und vor allem die Zahlung der zugesicherten 100 Milliarden Dollar an ärmere Länder.
Natürlich wollen wir auch den deutsch-britischen Handel wieder vergrößern, und wir sehen großes Potential in den Bereichen sauberes Wachstum (Clean Growth), Technologie und Lebenswissenschaften.
Wenn wir von Handel sprechen, ist klar, dass wir auch in Bezug auf China unsere Anstrengungen verstärken müssen. Wir sollten uns klar sein über die Risiken, die Chinas Aufstieg schafft. Allen voran für die regelbasierte internationale Ordnung, die für unsere beiden Länder so wichtig ist. Es ist gut, dass das im Moment breit diskutiert wird. Wir haben aber trotz alldem keinen einseitigen Blick auf China. Es gibt Bereiche, in denen es in unserem Interesse ist, mit China zu kooperieren, zum Beispiel hinsichtlich globaler Gesundheit und Klimawandel. Es ist nicht unser Ziel, uns von China abzukoppeln.
All das zeigt: Großbritannien bleibt ein zuverlässiger und verantwortungsvoller Partner: in Deutschland, in Europa und auch in der Welt.
Frau Boyd, wir danken herzlich für das Gespräch.

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