@HTAI, 17.09.2018 Aus der Politik

Höchste Zeit, Vorbereitungen zu treffen: Mitteilung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament

Auch wenn gefühlt noch zu viele Fragen ungeklärt sind, ist eines doch Fakt: Es wird sich etwas verändern in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich. Mit dem Austritt aus der EU am 30. März 2019 wird Großbritannien zu einem Drittland und das verlangt nach der Neuordnung einer Beziehung, die über 40 Jahre gewachsen ist. Die Europäische Kommission gibt in ihren Mitteilungen einen detaillierten Überblick über die möglichen Austritts-Szenarien und deren Auswirkungen. Die wichtigsten Punkte des Dokuments haben wir für Sie zusammengefasst.

EU-Kommission
© istockphoto.com/ Jorisvo

Die Entscheidung des Vereinigten Königreichs, die Union zu verlassen, führt zu Unsicherheiten, die Störungen verursachen könnten.

Tagung des Europäischen Rates (Artikel 50), 29. April 2017 


Mit dem Stichtag, der nur mehr gut 7 Monate entfernt ist, wird es Zeit, zur Eigenverantwortung aufzurufen. Es ist nun höchste Zeit, dass nicht nur die Politik, sondern auch Unternehmen jeder Größe – eben auch KMUs, private Akteure und Selbständige – Verantwortung für ihre jeweilige Situation übernehmen und die potenziellen Auswirkungen des Brexits auf ihr Geschäft abschätzen.

Wissen, was kommt: Austritts-Szenarien verstehen

Das Weißbuch, das die britische Regierung im Juli vorlegte, gab einen Eindruck, wie Großbritannien den Brexit gestalten möchte. Die darin aufgeführten Leitlinien wurden allerdings kontrovers aufgenommen. Auch Lucia Puttrich, die Hessische Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten findet klare Worte: „Das Weißbuch ist immerhin eine Grundlage, auf der man diskutieren kann. Aber die britische Regierung hat immer noch nicht wirklich akzeptiert, dass es mit der EU kein Rosinenpicken geben wird. Und vor den künftigen Beziehungen steht das Austrittsabkommen. Niemand kann einen harten Brexit wollen, aber es gibt keine Garantie, dass es nicht dazu kommt.“

Niemand kann einen harten Brexit wollen, aber es gibt keine Garantie, dass es nicht dazu kommt.

LUCIA PUTTRICH, Hessische Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten

Um eine Einschätzung zu den Verhandlungen rund um den Brexit gebeten, sagt Dr. Rainer Waldschmidt, Geschäftsführer der Hessen Trade & Invest GmbH: „Das Weißbuch, das die britische Regierung nun vorgelegt hat, kann eine Diskussionsgrundlage sein. Es trägt allerdings nicht dazu bei, die vielen offenen Fragen zu klären, die Unternehmer – wie bei uns am Wirtschaftsstandort Hessen – beschäftigen. Das macht es umso wichtiger, sich zu informieren und die Entwicklungen rund um den Brexit im Auge zu behalten.“

Die anhaltende Diskussion zeigt: Es ist unerlässlich zu wissen, welche möglichen Austritts-Szenarien sich entwickeln könnten. Mehr Klarheit wird es wohl erst im Oktober geben. Es ist geplant, dass die Europäische Union und das Vereinigte Königreich sich dann auf das Austrittsabkommen sowie die politische Erklärung zu den zukünftigen Beziehungen einigen. 

Bei einer erfolgreichen Einigung ist dann eine Übergangsphase zwischen dem Austrittsdatum am 30. März 2019 und dem 31. Dezember 2020 vorgesehen.

Das Weißbuch trägt nicht dazu bei, die vielen offenen Fragen zu klären, die Unternehmer beschäftigen. Das macht es umso wichtiger, sich zu informieren und die Entwicklungen rund um den Brexit im Auge zu behalten.

DR. RAINER WALDSCHMIDT, Geschäftsführer Hessen Trade & Invest GmbH

Momentan zeichnen sich zwei mögliche Szenarien ab:
  1. Deal: Ratifizierung des Austrittsabkommens vor dem 30. März 2019. Das EU-Recht tritt im Vereinigten Königreich erst nach einer Übergangsphase von 21 Monaten außer Kraft. 
  2. No-Deal: Keine Einigung über ein Austrittsabkommen, oder das Austrittsabkommen wird nicht rechtzeitig von beiden Parteien ratifiziert. Es gibt keine Übergangsphase und das EU-Recht tritt ab dem 30. März 2019 im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs außer Kraft.


[Auszüge aus der Mitteilung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament]
Szenario 1:
  • Das Vereinigte Königreich wird zu einem Drittland.
  • Anwendung des EU-Rechts auf das Vereinigte Königreich und in dessen Hoheitsgebiet: Prinzipiell bleibt das EU-Recht während der Übergangsphase in Kraft.
  • Ausscheiden aus dem institutionellen Gefüge: Das Vereinigte Königreich würde ab dem 30. März 2019 nicht mehr an der Beschlussfassung der EU, in den EU-Organen sowie an der Verwaltung der Stellen und Agenturen der EU mitwirken.
  • Verwaltung während der Übergangsphase: Die EU-Organe würden weiterhin ihre Rolle bei der Überwachung und Durchsetzung des EU-Rechts im Vereinigten Königreich wahrnehmen.
  • Verhandlungen über die künftigen Beziehungen: Die Europäische Union sollte mit dem Vereinigten Königreich ein Abkommen über die künftigen Beziehungen aushandeln, das idealerweise am Ende der Übergangsphase (vereinbart, unterzeichnet und ratifiziert) vorliegen und ab dem 1. Januar 2021 gelten sollte.
Szenario 2:
  • Das Vereinigte Königreich wird zu einem Drittland und das Unionsrecht tritt für das Vereinigte Königreich und in dessen Hoheitsgebiet außer Kraft.
  • Bürger: Es gibt keine spezielle Vereinbarung für EU-Bürger im Vereinigten Königreich oder für Bürger des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union.
  • Grenzfragen: Die Europäische Union muss ihre Rechts- und Zollvorschriften an den Grenzen zum Vereinigten Königreich als Drittland anwenden, wozu auch Prüfungen und Kontrollen in Bezug auf Zölle, gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Normen sowie die Überprüfung der Einhaltung von EU-Normen gehören. Der Verkehr zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union wäre schwer beeinträchtigt. Zoll-, Gesundheits- und Pflanzenschutzkontrollen an den Grenzen könnten erhebliche Verzögerungen, etwa im Straßenverkehr, verursachen und Häfen vor Probleme stellen.
  • Handels- und Regulierungsfragen: Das Vereinigte Königreich würde zum Drittstaat, sodass die Beziehungen zur Europäischen Union dem allgemeinen internationalen Völkerrecht, einschließlich der Regeln der Welthandelsorganisation (WTO), unterliegen würden. Vor allem in stark regulierten Sektoren wäre dies ein erheblicher Nachteil im Vergleich zum derzeitigen Grad der Marktintegration.
  • Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich: Je nach den Umständen, die zum Austritt ohne Abkommen führen, erwägt die EU gegebenenfalls, Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich als Drittland aufzunehmen.
  • EU-Mittel: Einrichtungen des Vereinigten Königreichs würden nicht länger als Empfänger von EU-Finanzhilfen und für die Teilnahme an EU-Vergabeverfahren infrage kommen. Wenn nicht anders durch geltende Rechtsvorschriften geregelt, könnten Bewerber oder Bieter aus dem Vereinigten Königreich ausgeschlossen werden.
 
Veränderte Beziehungen verlangen nach neuen Werkzeugen

In der Mitteilung heißt es außerdem: „International tätige Händler wissen, was der Handel mit Drittländern außerhalb der Europäischen Union bedeutet: Zollanmeldungen, gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Kontrollen usw. Sie sind sich auch der Auflagen bewusst, die erfüllt werden müssen, um Produkte aus Drittländern auf den EU-Binnenmarkt zu bringen, etwa im Hinblick auf die Einfuhrformalitäten, die Einhaltung des geltenden Unionsrechts oder die Konformitätsbewertungsverfahren. Viele Unternehmen haben jedoch keine Erfahrung im Handel mit Drittländern, da sie nur innerhalb des Binnenmarkts, in dem es keine Grenzkontrollen gibt, tätig sind. Es ist daher besonders wichtig, diese Unternehmen zu erreichen, da die Herausforderungen, die durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union entstehen, für sie am größten sind: Sie müssen Verfahren anwenden, die sie nicht kennen, die aber für den Handel mit Drittländern vorgeschrieben sind.“

Vorbereitungen auf den Brexit können also nicht nur auf EU-Ebene passieren, sondern die Mitgliedstaaten müssen jeweils ermitteln, welche legislativen und anderen Anpassungen sie vornehmen müssen.

Hier hilft, wie so oft, der Blick über den Tellerrand auf erfolgreiche Best-Practice-Beispiele: Sowohl die Republik Irland als auch die Niederlande haben Internet-Tools eingerichtet, die es KMUs ermöglichen, ihre Risiken im Zusammenhang mit dem Brexit einzuschätzen. Irland unterstützt kleinere und mittlere Unternehmen zudem mit bis zu 5.000 Euro in den Vorbereitungen auf den Brexit. 

Welches Szenario auch kommt, jetzt ist die Zeit für Vorbereitungen

Welche Bereiche sind vom Brexit besonders betroffen, welche Herausforderungen zeichnen sich ab und welche Vorbereitungen können hier getroffen werden? Die Europäische Kommission gibt hier einen wichtigen Überblick über ausgewählte Bereiche:
 


[Auszüge aus der Mitteilung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament]
Zoll

Wenn das Vereinigte Königreich ein Drittland wird und kein Übereinkommen etwas anderes vorsieht, müssen die Zollbehörden in der Union, d.h. die nationalen Zollbehörden, die EU-Vorschriften sowohl für Ausfuhren in das Vereinigte Königreich als auch für Einfuhren aus dem Vereinigten Königreich durchsetzen. Dann sind die Formalitäten anzuwenden, die derzeit für den Handel mit Nicht-EU-Ländern gelten, sodass für Warenlieferungen Zollanmeldungen vorzulegen sind und die damit zusammenhängenden Kontrollen zur Einhaltung der Vorschriften durchgeführt werden müssen. Zudem müssen dann Steuern und Abgaben (insbesondere Mehrwertsteuer und Verbrauchsteuern) berücksichtigt werden. Dies steht im Gegensatz zur derzeitigen Situation, in der für den Handel zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Rest der Union keine solchen Formalitäten oder Abgaben Anwendung finden. 

Die Zollformalitäten bringen für Unternehmen zusätzliche Dokumentations- und Datenanforderungen mit sich, für Zollbehörden mehr Aufwand für die Bearbeitung und Kontrollen, und beide Seiten benötigen Infrastruktur (IT- und physische Infrastruktur), um geeignete risikogestützte Kontrollen zu ermöglichen.

Alle betroffenen Akteure sollten sich auf eine Situation vorbereiten, in der die Warensendungen aus dem Vereinigten Königreich wie auch in das Vereinigte Königreich Zollverfahren und -kontrollen unterliegen.

Finanzdienstleistungen

Im Laufe der Jahre hat sich das Vereinigte Königreich im Allgemeinen und die Stadt London im Besonderen zu einem wichtigen Finanzdienstleistungszentrum entwickelt, was auch dem Binnenmarkt zu verdanken ist. Viele Wirtschaftsbeteiligte, auch aus Drittländern, haben sich im Vereinigten Königreich niedergelassen und sind im übrigen Binnenmarkt auf der Grundlage des in den EU-Finanzdienstleistungsvorschriften verankerten „Europäischen Passes für Finanzdienstleistungen“ tätig. 

Diesen Pass wird es nach dem Austritt nicht mehr geben. Die Erbringung von Finanzdienstleistungen aus dem Vereinigten Königreich für die EU-27 wird dann durch Drittlandsregelungen des Unionsrechts und den nationalen Rechtsrahmen des jeweiligen Mitgliedsstaats der EU-Kunden geregelt. Es wird keinen Zugang zum Binnenmarkt geben. Wirtschaftsbeteiligte aus allen Finanzdienstleistungssektoren müssen sich auf dieses Szenario vorbereiten, wenn sie sicherstellen wollen, dass sie weiterhin ihr derzeitiges Geschäftsmodell anwenden und für ihre Kunden tätig sein können. Hinsichtlich der Vertragskontinuität dürfte derzeit kein allgemeines Problem bestehen, da bestehende Verpflichtungen grundsätzlich auch nach dem Austritt weiter erfüllt werden können.

Verkehr

Die Union legt für die einzelnen Verkehrsträger (Luft-, Straßen-, Schienen-, See- und Binnenschiffsverkehr) Vorschriften für die Sicherheit und den Zugang zu den EU-Märkten fest. Diese Vorschriften unterscheiden in der Regel zwischen Marktteilnehmern aus der Union und Marktteilnehmern aus Drittländern und ermöglichen denjenigen, die die EU-Anforderungen erfüllen, den Zugang zu den EU-Märkten.

Verkehrsunternehmen aus der EU sollten sorgfältig prüfen, ob die Änderung des Status des Vereinigten Königreichs, das von einem Mitgliedsstaat zu einem Drittland wird, Auswirkungen auf ihre Tätigkeit hat, und sollten die notwendigen Vorbereitungsmaßnahmen ergreifen.
 



Eines wird deutlich: Egal, welches Szenario am Ende Realität wird, jeder Akteur – ob privat oder aus der Wirtschaft – muss spätestens jetzt damit beginnen, die Auswirkungen des Brexit für sich abzuschätzen und entsprechende Vorbereitungen zu treffen. Der Brexit verlangt von der Europäischen Union nicht nur Lösungen auf EU-Ebene, sondern ist auch ein Appell an die Eigenverantwortung jedes Einzelnen.

Dass auch hessische Unternehmer sich der Brisanz der anhaltenden Brexit-Verhandlungen bewusst sind, zeigte die Veranstaltung „Belastungsprobe Brexit – neue Chancen, neue Risiken für die hessische Wirtschaft“ am 6. September in Kassel. Auch hier war das Weißbuch der britischen Regierung ein aktuelles Thema. Und es wurde deutlich, dass einer der belastendsten Faktoren das Ausbleiben konkreter Entscheidungen im Verhandlungsprozess ist. Das macht es Unternehmen schwer, sich gezielt vorzubereiten.


Mitteilung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament (PDF)

Viele Unternehmen haben keine Erfahrung im Handel mit Drittländern.

MITTEILUNG der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament

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