Jetzt handeln statt abwarten und Tee trinken: Interview mit Tim Müller, IHK Gießen-Friedberg
Die Experten der Industrie- und Handelskammern haben wohl einen der tiefsten Einblicke in die Stimmungslage deutscher Unternehmen. Beim Thema Brexit zeigt sich: Der Beratungsbedarf ist groß – schließlich sind rund 2.500 deutsche Unternehmen im Vereinigten Königreich vertreten und beschäftigen dort über 400.000 Mitarbeiter. Tim Müller ist einer dieser Experten. Wir haben den stellvertretenden Geschäftsbereichsleiter International der IHK Gießen-Friedberg zur „Belastungsprobe Brexit“ befragt.
Herr Müller, könnten Sie zum Einstieg bitte kurz Ihre Position skizzieren, die Sie bei der Veranstaltung „Belastungsprobe Brexit – neue Chancen, neue Risiken für die hessische Wirtschaft“ im Juni 2018 vertreten haben?
Die größten Risiken sehe ich im Warenverkehr und im Transportsektor. Betrachtet man diese beiden Bereiche, möchte ich insbesondere auf zwei mögliche Szenarien aufmerksam machen: zum einen auf den „harten Brexit“, bei dem der Warenverkehr zwischen EU und UK wieder nach WTO-Regeln erfolgen würde und zum anderen auf ein „Freihandelsabkommen“, das geringere Auswirkungen für den Warenverkehr und Transport darstellen könnte. Ebenfalls wurden die Auswirkungen im Hinblick auf Zollförmlichkeiten, Verbote und Beschränkungen, Zölle und Ursprungsregeln und die damit verbundenen zusätzlichen Kosten für die Unternehmen skizziert.
Was sind die häufigsten Fragen und Themen, die Ihnen von Unternehmerseite rund um den Brexit begegnen?
Die Themen, mit denen sich unsere Unternehmen seit Anfang 2018 beschäftigen, sind sehr vielfältig. Die am häufigsten nachgefragten lassen sich am besten wie folgt thematisch gliedern:
Zollanmeldungen
Deutsche Unternehmen müssen für ihr Großbritannien-Geschäft ab dem 1. Januar 2021 zu Zollanmeldungen zurückkehren. Unternehmen, die bislang nur an Kunden innerhalb des europäischen Binnenmarkts geliefert haben, sollten daher rechtzeitig entsprechendes Exportwissen aufbauen.
Präferenznachweise und Präferenzkalkulation
Waren, die sich innerhalb der EU im freien Verkehr befanden, konnten bislang zollfrei zwischen Großbritannien und Deutschland hin- und hergeliefert werden. Künftig ist das nur noch möglich, wenn die Nachweise für einen EU- bzw. UK-Präferenzursprung vorliegen. Liegen die Nachweise nicht vor, fallen möglicherweise Zölle an. Bereits heute sollten Unternehmen daher den Anteil ihrer britischen Vorerzeugnisse genau betrachten und deren Wert ermitteln, um dann gegebenenfalls nach alternativen Bezugsquellen für ihre Vorprodukte zu suchen.
Preise
Ausfuhren nach Großbritannien werden künftig einen höheren personellen, administrativen und finanziellen Aufwand erfordern. Unternehmer sollten dies bereits jetzt bei ihrer Preiskalkulation berücksichtigen. Auch ein möglicher Zoll auf die Produkte und das Risiko von Währungsschwankungen sollte in die Kalkulation einfließen. Abschließend wäre dann zu prüfen, ob die Ware überhaupt noch konkurrenzfähig auf dem britischen Markt ist.
Wartezeiten für Lieferprozesse
Unternehmen werden sich gerade in den Anfangszeiten auf längere Lieferzeiten einstellen müssen. Schließlich muss eine zollrechtliche Abfertigung erfolgen. Dafür fehlen aber momentan auf britischer Seite sowohl circa 5.000 Zollbeamte als auch die entsprechenden IT-Systeme.
Lieferketten
Unternehmen, die bislang Waren aus Großbritannien oder britischen Ursprungs beziehen, sollten jetzt ihre Lieferketten überprüfen. Die wichtigste Frage dabei lautet: Verfügt mein britischer Lieferant für seine Produkte künftig noch über die notwendigen EU-Zulassungen für das Inverkehrbringen seiner Waren? Typen-Zulassungen durch britische Zulassungsbehörden verlieren nach aktuellem Kenntnisstand nach Ablauf der Übergangsfrist ihre Gültigkeit für den EU-Binnenmarkt.
Anzeigepflicht bei bestimmten Gütern
Bei der Einfuhr bestimmter Waren aus Drittstaaten in die EU, z.B. medizinischer oder kosmetischer Produkte, bestehen für den Hersteller und/oder Importeur bestimmte Anzeigepflichten. Zudem müssen Sicherheitsbeauftragte benannt werden, die in der EU ansässig sein müssen. Mit dem Austritt aus der EU gelten britische Unternehmen nicht mehr als EU-Importeure, so dass die Anzeigepflicht auf deutsche Unternehmen übergeht. Auch hier sollten Unternehmen rechtzeitig Maßnahmen ergreifen.
CE-Kennzeichnungen
Bestimmte Produkte, wie beispielsweise medizintechnische Geräte, dürfen in der EU nur dann in Verkehr gebracht und in Betrieb genommen werden, wenn sie mit einer CE-Kennzeichnung versehen sind. Diese Kennzeichnung darf nur angebracht werden, wenn geregelte produktspezifische Konformitätsbewertungsverfahren durchgeführt wurden. Für bestimmte Produktbereiche ist die Präsenz einer „Benannten Stelle“ (Notified Body) erforderlich. Die Benannte Stelle hat den Auftrag, die Konformität von Produkten entsprechend geltender EU-Vorschriften zu prüfen. Im Vereinigten Königreich angesiedelte Benannte Stellen verlieren ab dem Austrittsdatum ihren EU-Status. Deutsche Unternehmen, die für ihre Produkte eine CE-Kennzeichnung benötigen, müssen nach dem Brexit sicherstellen, dass die erforderlichen Zertifikate von einer anerkannten Benannten Stelle mit Sitz in der dann EU-27 ausgestellt werden.
Verträge mit britischen Geschäftspartnern
Bestehende Verträge mit britischen Geschäftspartnern sollten zu einem geeigneten Zeitpunkt auf die neuen Rahmenbedingungen angepasst werden. Zu den zu überprüfenden Vertragsklauseln zählen die Wahl des geltenden Rechts und des Gerichtsstands, die Definition des „Gebiets der EU“ – insbesondere bei Lizenz- oder Vertriebsverträgen – sowie mögliche Vertragsergänzungen zum Ausgleich von Zöllen oder zur Währungsabsicherung. Vertragliche Regelungen zu CE-Kennzeichnungen sowie EU-Normen müssen ebenfalls neu definiert werden. Bei Dienstleistungs-, Arbeits- oder Handelsvertreterverträgen sind Neuregelungen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit oder der Dienstleistungserbringung zu beachten.
Ausfuhren nach Großbritannien werden künftig einen höheren personellen, administrativen und finanziellen Aufwand erfordern.
Steuerliche Änderungen
Insbesondere im umsatzsteuerlichen Bereich kommen massive Änderungen auf die Unternehmer zu, da steuerfreie Lieferungen in ein Drittland anderen Regelungen unterliegen, als Lieferungen im Binnenmarkt. Fraglich ist auch, ob sozialrechtliche Erleichterungen, wie das Formular A 1, weiterhin Geltung haben werden.
Auswirkungen auf die Limited-Gesellschaften
Es ist sehr fraglich, ob eine Haftungsbeschränkung für eine Limited mit Verwaltungssitz in Deutschland weiter bestehen wird. In diesem Bereich gibt es für Unternehmen einen großen Handlungsbedarf.
Messe- und Montagearbeiten
Da Großbritannien in allen denkbaren Fällen zu einem Drittland wird, werden in Zukunft für Dienstleistungen in Großbritannien andere Regelungen gelten als im EU-Binnenmarkt. Inwieweit zukünftig Visa und Arbeitserlaubnisse erforderlich werden, bleibt abzuwarten. Für Berufs- und Messeausrüstung wird voraussichtlich ein Carnet ATA erforderlich sein.
Irland-Vertrieb überprüfen
Oft bearbeiten britische Vertriebspartner den irischen Markt für ihre deutschen Auftraggeber mit. Unternehmen sollten deshalb schon jetzt wichtige Fragen stellen, ob dieser Ansatz auch für die Post-Brexit-Zeit der richtige Weg ist: Welches Geschäftspotenzial bietet der irische Markt tatsächlich? Sollte der irische Markt künftig besser direkt über einen irischen Vertriebspartner bearbeitet werden?
Softwaresysteme
ERP-Anpassungen und andere Software-Änderungen brauchen Zeit. In vergleichbaren Situationen wie dem Brexit veranschlagten Unternehmen eine Anpassungszeit von sechs bis neun Monaten. Ein frühzeitiger Start empfiehlt sich deshalb.
Insbesondere im umsatzsteuerlichen Bereich kommen massive Änderungen auf die Unternehmer zu.
Wie nehmen Sie die Stimmung rund um das Thema „ungeregelter Brexit“ wahr?
Ein ungeregelter Brexit birgt die Gefahr von weitreichendem, handelsbezogenem Chaos. Alle Grundlagen des deutschen Handels mit dem UK beruhen derzeit auf EU-Recht, das sich über viele Jahre entwickelt hat. Nach dem Brexit kämen Grenzkontrollen, Zollanmeldungen und eine ganze Bandbreite massiver Rechtsunsicherheiten auf die Unternehmen zu. Branchen wie die Kfz-Hersteller und deren Zulieferer könnten wegen ihrer engen Vernetzung mit der britischen Insel besonders betroffen sein. Ein ungeordneter Brexit würde einen Rückfall auf die Handelsregeln der Welthandelsorganisation WTO bedeuten.
Welchen Service bietet die IHK Gießen-Friedberg regionalen Unternehmen rund um das Thema Brexit und wie stark wird dieses Angebot genutzt?
Wir halten unsere Mitgliedsunternehmen über Newsletter, Internetseiten, soziale Medien und weitere Kanäle auf dem Laufenden. Zudem stellen wir eine Brexit-Checkliste und ein Brexit-Video bereit. Bei unseren Veranstaltungen, wie dem Zollforum Mittelhessen Ende November, hatten wir den Brexit ebenfalls auf der Agenda. Zudem beraten wir alle Mitgliedsunternehmen individuell zu den Brexit-Themen Zollanmeldungen, Präferenznachweise und Präferenzkalkulation, Lieferketten und Lieferprozesse, Anzeigepflicht bei bestimmten Gütern und Exportkontrolle, CE-Kennzeichnungen sowie Recht und Steuern.
Wie können sich Unternehmen zielgerichtet auf den Brexit vorbereiten?
Die Unternehmen sollten sich an ihren örtlichen Ansprechpartner für den Bereich Internationale Angelegenheiten in den Industrie- und Handelskammern wenden, um sich gezielt vorzubereiten. Ebenfalls besteht die Möglichkeit, die wichtigsten Aspekte über die DIHK-Checkliste „Are you ready for Brexit?“ in den Rubriken Warenverkehr, Transport, Finanzdienstleistungen und Versicherungen, Personal und Bildung/Berufsbildung, Verträge, Markenrechte und Zertifizierungen, Steuern sowie Gesellschaftsrecht abzurufen. Das Werkzeug der IHK-Organisation bietet Unternehmen in insgesamt 18 Themenfeldern Orientierung, wie sie sich auf den Brexit vorbereiten können.
Herr Müller, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Ein ungeregelter Brexit birgt die Gefahr von weitreichendem, handelsbezogenem Chaos.

Sie bekommen das Update noch nicht?
Melden Sie sich hier an und bleiben Sie stets informiert.