@HTAI, 20.11.2018 Stimmen zum Brexit

Eine erfolgreiche Branche stark halten: Interview mit Anne Meister, VCI Hessen

Manch einer nennt Hessen die Apotheke Deutschlands: Die chemisch-pharmazeutische Industrie ist mit gut 60.000 Beschäftigten und 26 Milliarden Umsatz einer der stärksten Motoren der hessischen Wirtschaft. International führende Unternehmen wie Merck, Evonik, Clariant oder Sanofi-Aventis sind hier verwurzelt. Was denkt die Branche über den Brexit? Welche Fragen müssen jetzt beantwortet werden? Anne Meister, Referentin für politische Kommunikation beim Verband der Chemischen Industrie Hessen (VCI), hat uns einen Einblick in eine spannende Branche gegeben.

Anne Meister, Referentin für politische Kommunikation beim Verband der Chemischen Industrie (VCI) Hessen © VCI Hessen
Frau Meister, welchen Bezug haben Sie zum Thema Brexit und was ist Ihr Hintergrund, der Sie zu einer so wichtigen Ansprechpartnerin für dieses Thema im VCI macht?

Vor meiner Arbeit für den VCI war ich acht Jahre in Brüssel tätig, die letzten drei davon für die BDA, die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände. Für die deutsche Wirtschaft ist Brexit definitiv ein Thema. Seit das Thema virulent ist, habe ich mich intensiv damit beschäftigt, wenn auch anfangs aus einer mehr arbeitsrechtlichen Perspektive. Für den VCI bin ich heute damit beschäftigt, die spezifischen Informationen und Entwicklungen für die chemisch-pharmazeutische Industrie im Blick zu behalten. Und auch ganz persönlich finde ich es ein hoch spannendes, wenn auch mitunter frustrierendes Thema.

Welchen Eindruck haben Sie von der Stimmung auf Unternehmensseite, bezogen auf den Brexit?

Wir erhalten nicht von allen Unternehmen eine Rückmeldung, aber wir wissen, dass gerade in kleineren Unternehmen das Tagesgeschäft die Ressourcen so stark bindet, dass verständlicherweise wenig Raum bleibt, sich umfassend mit dem Thema Brexit zu beschäftigen. Größere Unternehmen sind da sichtbarer in ihrer Brexit-Kommunikation und Vorbereitung, weil sie andere Möglichkeiten zur Verfügung haben, z.B. in der Zollabwicklung.

Etwas mehr als zwei Jahre nach der Entscheidung ist noch immer vor allem Bedauern über das Brexit-Referendum zu hören, wobei unterschwellig greifbar ist, dass oftmals der Eindruck vorherrscht, es werde schon zu einer Einigung kommen. Darauf sollte man sich aber vielleicht nicht verlassen. Beim VCI sehen wir es deshalb als unsere Aufgabe unseren Mitgliedern möglichst umfassende Informationen zur Verfügung zu stellen und eine Sensibilisierung für das Thema und seine anhaltende Brisanz zu schaffen. Ein konkretes Beispiel dafür ist etwa die Möglichkeit, dass Lieferketten von einem ungeregelten Brexit betroffen sein könnten. Wenn man als Unternehmen dies noch nicht im Blick hatte, ist es spätestens jetzt an der Zeit, sich vorzubereiten. Da wirken wir als Verband unterstützend, indem wir solche Informationen bündeln und verfügbar machen. Das entlastet im Tagesgeschäft.

Was wir erleben, ist, dass auf Arbeitsebene gerade im letzten halben Jahr einiges in Bewegung geraten ist. Da ist das Thema Lagerbestände zu nennen: manche Unternehmen haben begonnen Lager anzumieten, um bei einem harten Brexit Versorgungsengpässen vorzugreifen. Ebenso relevant ist das Thema REACH, die Europäische Chemikalienverordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe. Hier müssen ursprünglich über das Vereinigte Königreich eingereichte Stoffregistrierungen in die EU-27 übertragen werden, um auch nach dem 29. März 2019 weiterhin im europäischen Binnenmarkt verwendbar zu sein.

Beim VCI sehen wir es deshalb als unsere Aufgabe unseren Mitgliedern möglichst umfassende Informationen zur Verfügung zu stellen und eine Sensibilisierung für das Thema und seine anhaltende Brisanz zu schaffen.

ANNE MEISTER, Referentin für politische Kommunikation beim Verband der Chemischen Industrie (VCI) Hessen

Stichwort Zulassungen, wie ist da die Stimmungslage?

Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) hat eine Studie vorgestellt, aus der hervorgeht, dass es mit dem Brexit Engpässe bei rund 108 zugelassenen medizinischen Produkten geben könnte, da Anträge bei der EMA nicht rechtzeitig eingereicht werden können. Wobei man sagen muss, dass dies Produkte aus dem Vereinigten Königreich betrifft, die dann nicht mehr auf dem europäischen Markt verfügbar sind. Neben der Verlagerung von Arzneimittelzulassungen werden auch Qualitätskontrollen in einen EU-27 Mitgliedsland verlagert werden müssen. Aber das sind alles Prozesse, die bereits in Bewegung sind. Das ist grundsätzlich zu beobachten: Es herrscht eine gewisse Unruhe, aber keine Panik.

Und die Unruhe bezieht sich vor allem darauf, dass die politischen Entscheidungsträger zu keiner feststehenden Lösung kommen und es tatsächlich auf eine Entscheidung in letzter Minute hinauslaufen könnte – oder eben gar keiner. Das widerspricht natürlich dem Bedürfnis der Unternehmen nach Planungssicherheit.

Was genau ist das Angebot des Verbandes an die Unternehmen?

Wir schaffen vor allem Aufmerksamkeit. Das heißt, wir weisen auf Themen und sensible Bereiche hin, die Unternehmen jetzt für sich klären sollten. Unsere Mitglieder haben nicht alle dieselbe Betroffenheit aufgrund ihrer unterschiedlichen Geschäftsmodelle. Gleichwohl sollten Bereiche wie Lieferketten und Vertragspartnerabsprachen oder auch die Themenkomplexe REACH und Zulassungen von Arzneimitteln und medizinischen Produkte auf ihre Anfälligkeit geprüft werden. Hier bieten wir zu einzelnen Themen auch Veranstaltungen an, die sehr erfolgreich sind. Wir können natürlich keine Kristallkugel liefern, aber wir können sensibilisieren. Wir verweisen auch gerne auf den Leitfaden des BDI, der mit 111 Orientierungsfragen eine gute Basis bietet, um Schwachstellen in der Brexit-Vorbereitung des eigenen Unternehmens aufzudecken.

Wie ich es eingangs auch schon sagte: Wir sollten im Blick behalten, dass eine finale Einigung nicht rechtzeitig zustande kommt. Meine Botschaft an die Unternehmen ist immer: Bereiten Sie sich jetzt vor, damit am 30. März 2019 kein böses Erwachen droht. 

Frau Meister, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Es herrscht eine gewisse Unruhe, aber keine Panik.

ANNE MEISTER, Referentin für politische Kommunikation beim Verband der Chemischen Industrie (VCI) Hessen

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