@HTAI, 25.02.2021 Stimmen zum Brexit

„Man wurschtelt sich in vielem so durch“ – nach dem Brexit steckt der Teufel noch immer im Detail

Im November 2018 gab Anne Meister, Referentin für EU Green Deal, Umwelt und politische Kommunikation beim Verband der Chemischen Industrie Hessen (VCI), bereits einen Einblick in die Auswirkungen des Brexit-Prozesses auf die chemisch-pharmazeutische Industrie. Im Januar 2021 treffen wir sie online erneut zum Gespräch: Wie geht es der Branche und wie blickt man auf die Beziehungen mit Großbritannien?

Anne Meister, VCI Hessen
Anne Meister (VCI) ist erleichtert, dass das ganz große Brexit-Chaos ausgebleiben ist. © VCI Hessen
Frau Meister, in unserem ersten Interview 2018 sagten Sie, das Thema Brexit habe durchaus frustrierende Aspekte. Wie bewerten Sie das Ergebnis des Brexit-Prozesses heute?

Die Situation ist sicher eine besondere, denn es gibt ein Thema, das alles andere überlagert: die Corona-Pandemie. Schaut man dann aber auf den Brexit, können wir aus Sicht der chemisch-pharmazeutischen Industrie sagen: Der Brexit ist mehr oder weniger geglückt. Die guten Nachrichten sind: Die Unternehmen haben sich im Vorfeld sehr gut vorbereitet, es ist zu keinen dramatischen Engpässen gekommen: Das befürchtete Chaos ist ausgeblieben. Dass das so ist, ist der Weitsicht der Unternehmen zu verdanken, die aus eigener Initiative Vorkehrungen, wie etwa die Bevorratung mit Produkten, getroffen haben. Dafür brauchte es keine politischen Vorgaben, das ist ganz normales unternehmerisches, langfristiges Planen.

Es schwingt ein Aber mit?

Das Aber steckt in den Detailthemen. Zuerst einmal muss man nochmal betonen, wie schwierig die Vorbereitung auf den Brexit für viele Unternehmen war. Details waren lange, mitunter bis kurz vor Fristablauf, ungeklärt, genauso wie die Sicherheit eines belastbaren Handelsabkommens. Es wurde viel Kurzfristigkeit abverlangt, die im Widerspruch zu einer langfristigen unternehmerischen Planung steht. Noch ist es zu früh, um eine aussagekräftige Bilanz zu ziehen, dafür werden wir die Zahlen und Erfahrungsberichte im Lauf des Jahres abwarten müssen. Im zweiten und dritten Quartal können wir das sicher besser beurteilen. 

Das befürchtete Chaos ist ausgeblieben.

ANNE MEISTER, Referentin für EU Green Deal, Umwelt und politische Kommunikation, VCI Hessen

Welche Themen beschäftigen Sie im Verband und Ihre Mitgliedsunternehmen noch mit Blick auf den Brexit und die Ergebnisse?

Die Themen, die uns mit Blick auf den Brexit noch umtreiben, sind die Zölle, das Thema Forschung und Entwicklung und die Auswirkungen auf die Chemikalienpolitik. Letzteres ist ein Thema, das die gesamte Branche betrifft und problematisch werden kann. Die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) ist verantwortlich für die REACH-Verordnung (REACH = Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals), welche die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe in einem einheitlichen Verfahren innerhalb der Europäischen Union regelt. EU-REACH wurde zwar zunächst ins britische Recht übernommen, kann sich jedoch u.U. anders entwickeln als in der EU. In jedem Fall müssen nun Unternehmen, die auch seit dem 1. Januar 2021 in das Vereinigte Königreich exportieren wollen, ihre Stoffe neu registrieren. Dies bringt einen erheblichen Mehraufwand mit sich: Es kostet Zeit, Geld und personelle Ressourcen. Außerdem ist das Data-Sharing nicht geregelt. Das erschwert den Austausch von Daten und den Zugriff auf Studien, was den Registrierungsprozess langwieriger macht. Es gibt Schätzungen, dass alleine durch diese Hürden Kosten von 1 Milliarde Pfund für Unternehmen aus der EU und Großbritannien entstehen.

Das zweite Thema, das uns umtreibt, sind die Zölle. Auch wenn es keine Zölle auf Chemie- und Warenhandel gibt, greifen bei chemischen und pharmazeutischen Produkten jetzt die Ursprungsregeln. Das heißt, zur Gewährung der Zollfreiheit muss nachgewiesen werden, dass die Ware vollständig oder zu einem bestimmten Prozentsatz im EU-Raum hergestellt wurde. Das bedeutet einen hohen Aufwand für Unternehmen, da sie nun ihre Lieferketten aufschlüsseln müssen. Zudem war eine Vorbereitung nicht möglich, da erst Ende Dezember die verschiedenen Zollsätze feststanden. Grundsätzlich haben viele Unternehmen im Verband ja Erfahrung in den Beziehungen zu Drittstaaten, mit Blick auf Großbritannien war es jedoch die Kurzfristigkeit, die es kompliziert machte. Insgesamt ist das Thema Zölle eines der komplexesten unter den aktuellen Brexit-Herausforderungen.

Sie hatten noch das Thema Forschung und Entwicklung genannt. Wie sieht es da aus?

Mit dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union erschwert sich auch die Forschungskooperation. Das ist ein Verlust, da die Forschungsslandschaft in Großbritannien exzellent ist. Auch künftig werden Einrichtungen aus dem Vereinigten Königreich am Europäischen Forschungsrahmenprogramm teilnehmen, aber vermutlich nicht mehr wie im bisherigen Ausmaß und unter höherem bürokratischen Aufwand. Ähnlich verhält es sich auch mit der Anerkennung von beruflichen Qualifikationen. Anerkannt wird und ist gerade nur, was vor dem 1. Januar bereits anerkannt wurde. Ansonsten gelten hier Regelungen wie mit anderen Drittstaaten. Das ist auch ein Aufwandsfaktor für Unternehmen.

Alles in allem ist es bis jetzt eine gemischte Bilanz, die wir ziehen. Das ganz große Brexit-Chaos ist uns erspart geblieben, in vielen Bereichen heißt es aber „sich durchwurschteln“, bis sich alles eingespielt hat. Der Brexit wird momentan natürlich überlagert vom großen Thema der Pandemie.

Jenseits von Brexit und COVID-19: Welche europäischen Themen sind jetzt auf der Agenda des VCI?

Eines der bestimmenden Themen, nicht nur für die chemisch-pharmazeutische Industrie, ist der europäische „Green Deal“, der weitreichende klima- und energiepolitische Ziele vorgibt und auch die Chemikalienpolitik neu aufstellen möchte. Die EU-Kommission strebt damit einen grundlegenden Umbau der europäischen Industrie an. Eine echte Nachhaltigkeitsstrategie kann jedoch nicht nur ökologisch, sondern muss auch ökonomisch und sozial nachhaltig sein. Die Balance ist außerordentlich wichtig. Das zu vermitteln, haben wir uns als Ziel gesetzt.

Frau Meister, wir danken Ihnen für das Gespräch!

In vielen Bereichen heißt es sich durchwurschteln, bis alles an seinen Platz fällt und sich eingespielt hat.

ANNE MEISTER, Referentin für EU Green Deal, Umwelt und politische Kommunikation, VCI Hessen

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