@HTAI, 20.11.2018 Stimmen zum Brexit

Von den Großen lernen: Pragmatismus im Brexit-Chaos

Lange war alles in der Schwebe, nun liegt der finale Vertragsentwurf vor, der auf über 500 Seiten darlegt, wie der Austritt Großbritanniens aus der EU geregelt werden könnte. Ein guter Zeitpunkt, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und zu schauen, wie sich hessische Unternehmen, die in ihrem Geschäft direkt vom EU-Austritt Großbritanniens betroffen sind, trotz aller Ungewissheit auf das Unvermeidliche vorbereitet haben.

Séverine Féraud, Senior Manager Corporate and Government Relations Europe, Merck
Séverine Féraud, Senior Manager Corporate and Government Relations Europe, Merck © Salome Roessler

Wer sich dieser Tage in Darmstadt am Ursprungssitz von Merck umschaut, wird einen Unterton der Ausgelassenheit wahrnehmen. Auslöser ist der farbenfrohe Zeltbau M-Sphere, den das Unternehmen anlässlich seines 350-jährigen Bestehens als temporären Veranstaltungsort errichtet hat.

Die gut gelaunte Farbigkeit schmückt nicht nur das Jubiläumsjahr, sie ist Ausdruck eines innovativen Geistes, der sich durch diesen Besuch bei einem von Hessens größten Familienunternehmen zieht. Spürbar wird das denkerische Über-den-Tellerrand-Schauen auch im neuen Merck Innovation Center. Hier treffen wir Séverine Féraud, Senior Manager Corporate and Government Relations Europe, zum Gespräch. Zwischen Videoinstallation, lebendiger Architektur und Start-up-Geist lässt es sich leichter reden – über ein Thema, das für viele Unternehmen vor allem mit zu vielen Fragezeichen verbunden ist: „Wie bereiten wir uns auf den Brexit vor?“

Interview mit Séverine Féraud, Senior Manager Corporate and Government Relations Europe, Merck
Die studierte Politologin erstellt Analysen und erläutert mögliche Szenarien, eine wichtige externe Perspektive für die Vorbereitungen des Unternehmens auf den Brexit. © Salome Roessler
Séverine Féraud, Senior Manager Corporate and Government Relations Europe, Merck
© Salome Roessler
Den Blick von außen nutzen

Dass wir uns mit Séverine Féraud treffen, ist eine Fortsetzung der innovativen Denkansätze und des Muts, neue Wege zu gehen, dem sich Merck verschrieben hat. Auch in Bezug auf den Brexit.

Die Politologin war nach der Arbeit für NGOs und Gewerkschaften auch in der Verbandsarbeit für die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände in Brüssel tätig, wo einer ihrer Themenschwerpunkte die Arbeitnehmerfreizügigkeit war. Diese politische Expertise bringt sie nun in die Brexit-Task-Force ein, die von Merck 2017 eingerichtet wurde. Damals wurde deutlich, dass der Verhandlungsprozess nicht eindeutig verlaufen wird und Unternehmen selbst in die Verantwortung genommen werden, sich auf die unterschiedlichen potenziellen Brexit-Szenarien vorzubereiten.

Hier setzt Frau Féraud an, sie erstellt Analysen und gibt Hintergrundinformationen über aktuelle Entwicklungen der Brexit-Verhandlungen und deren mögliche Auswirkungen. Und schafft es dabei, auch einen Blick von außen zu wahren, der nicht verstellt ist durch die Anforderungen des Tagesgeschäfts, das für viele Unternehmen meist alle Ressourcen bindet: „Wenn wir über den Brexit sprechen, geht es meist darum, dass ein Austrittsabkommen verabschiedet werden muss. Die positive Botschaft war dann immer, dass dieses Abkommen zu 95% steht. Was in der Diskussion aber zu wenig Beachtung findet, ist, dass das Abkommen nicht die endgültige Ziellinie ist. Es gibt ein Ziel nach dem Ziel: die rechtzeitige Ratifizierung des Abkommens durch die Europäischen Institutionen und nationale Parlamente. Ob dies gelingt – da denke ich insbesondere an den „Wackelkandidaten“ britisches Parlament – ist unklar.“

Es sind mahnenden Töne, die es gerade dann braucht, wenn einen der Verhandlungsstillstand zum Abwarten verleiten will. Neben der politischen Ebene gibt es aber auch die menschliche. Rund 1.500 Mitarbeiter arbeiten an 14 Merck-Standorten im Vereinigten Königreich. Viele der Mitarbeiter sind EU-Bürger und als Unternehmen will man seiner Verantwortung nachkommen, hier Informationen und Strategien präsentieren zu können. An diesem Punkt durchkreuzt der schwerfällige Prozess der Austrittsverhandlungen das unternehmerische Verantwortungsbewusstsein.

Die positive Botschaft ist dann immer, dass dieses Abkommen zu 95% steht. Was in der Diskussion aber zu wenig Beachtung findet, ist, dass das Abkommen nicht die endgültige Ziellinie ist. Es gibt ein Ziel nach dem Ziel: die rechtzeitige Ratifizierung des Abkommens.

SEVERINE FERAUD, Senior Manager Corporate and Government Relations Europe, Merck

Merck KGaA Headquarter
Das Merck Innovation Center bietet Raum zum Neudenken. © Salome Roessler
Séverine Féraud, Senior Manager Corporate and Government Relations Europe, Merck
Die interaktive Light-Sound-Installation im Merck Innovation Center reagiert auf die physische Präsenz des Besuchers. © Salome Roessler
Merck KGaA Headquarter
Die M-Sphere bildet einen erfrischenden Kontrast am Standort Darmstadt. © Salome Roessler
Die Pharmaindustrie sieht Risiken

Mahnende Töne sind in der chemisch-pharmazeutischen Industrie mehr als angebracht. Bei den hessischen Exportgütern in das Vereinigte Königreich stehen chemische und pharmazeutische Produkte auf Rang zwei, 2017 entsprach dies einem Warenwert von 795 Millionen Euro. Ein Drittel davon entfällt auf pharmazeutische Produkte. Die hessische Pharma- und Chemieindustrie muss also alle möglichen Brexit-Risiken mit bedenken. Ein ungeordneter Brexit würde insbesondere bedeuten, dass die Zulassung vieler Arzneimittel gegebenenfalls nicht mehr sichergestellt werden kann. Bisher wurde jedes fünfte neue Arzneimittel für die EU bei der britischen Arzneimittelbehörde getestet. Mit dem Umzug der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA nach Amsterdam wird nun befürchtet, dass Zulassungsverfahren bis zum März 2019 nicht rechtzeitig abgeschlossen werden können, zumal die noch ungeregelten Absprachen für die Übergangszeit zu einem sprunghaften Anstieg der Zulassungsverfahren führen könnten.

Bei Merck werden diese Risiken schon länger auch öffentlich angesprochen. So zitiert Séverine Féraud ihren CEO Stefan Oschmann, dieser hatte schon im April gewarnt: „Wir dürfen keine Versorgungsengpässe bei wichtigen Medikamenten durch unterschiedliche Standards riskieren.“

Die Zahlen, die der Pharmaverband EFPIA für den Industriezweig benennt, machen deutlich, dass der Brexit da zu einem persönlichen Thema wird, wo Menschen auf bestimmte Medikamente angewiesen sind: Jeden Monat überqueren 45 Millionen Packungen Medikamente den Ärmelkanal in Richtung Kontinental-Europa, in die andere Richtung werden monatlich 35 Millionen Verpackungen nach Großbritannien transportiert. Werden hier nicht zeitnah die administrativen Weichen gestellt, kann dies in der Konsequenz durchaus Engpässe in der Patientenversorgung bedeuten.

Ein unkontrollierter Brexit könnte aber auch schwerwiegende Auswirkungen auf die Lieferketten haben. Denn REACH – eine der komplexesten EU-Gesetzesmaterien in der Registrierung und Zulassung von chemischen Stoffen, die deren Verkehrsfähigkeit in der EU voraussetzt – würde ihre Geltung im Vereinigten Königreich verlieren.

Wir dürfen keine Versorgungsengpässe bei wichtigen Medikamenten durch unterschiedliche Standards riskieren.

STEFAN OSCHMANN, CEO Merck

Merck KGaA Headquarter
© Salome Roessler
Merck KGaA Headquarter
© Salome Roessler
Merck KGaA
Ein neues Corporate Design trägt den innovativen Geist bei Merck. © Salome Roessler
Durchatmen, pragmatisch bleiben

In den großzügigen Räumen des Merck Innovation Center scheint die angespannte Stimmung Brüsseler Verhandlungstische weit weg. Hier sind die Zeichen auf Zukunft gestellt, junge Start-ups arbeiten angeregt mit Mentoren aus der Merck-Belegschaft und neue Technologien verbinden sich mit gewohnten Arbeitsabläufen zu etwas, das eine beruhigende Bewegung ausstrahlt. Der Umgangston ist lebhaft, entspannt. Der richtige Rahmen für eine Botschaft, die uns Séverine Féraud noch mit auf den Weg gibt: „Wir sollten uns nicht verrückt machen, Herr Oschmann hat gut in Worte gefasst, was es jetzt braucht: Wir können den Brexit nicht abwenden – aber wir können ihn managen. Und das sollten wir auch. Ein unaufgeregter Pragmatismus, der die langfristigen Interessen beider Seiten berücksichtigt, erscheint mir dabei als der vielversprechendste Weg.“


Wir können den Brexit nicht abwenden – aber wir können ihn managen.

SEVERINE FERAUD, Senior Manager Corporate and Government Relations Europe, Merck


Merck KGaA Headquarter
Merck-Stammsitz im hessischen Darmstadt. © Salome Roessler

Unternehmensinformation

Die Merck KGaA hat ihre Anfänge in einer Apotheke, die 1668 von Friedrich Jakob Merck in Darmstadt gegründet wurde. 350 Jahre später ist das international tätige Wissenschafts- und Technologieunternehmen noch immer mehrheitlich in Familienbesitz. Am Stammsitz in Darmstadt sind heute rund 11.000 Mitarbeiter tätig, ein Fünftel der weltweiten Belegschaft, die sich über 150 Standorte und Regionen verteilt. Das hessische Unternehmen ist unter anderem bekannt für seine biopharmazeutischen Therapien zur Behandlung von Krebs oder Multipler Sklerose, sowie die Herstellung von Flüssigkristallen für Smartphones oder LCD-Fernseher.

Zur Website von Merck


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