Wird Großbritannien jetzt zur Prokrasti-Nation?
Lange Zeit war eine Verschiebung des offiziellen Austrittsdatums keine Option für die britische Regierung. Jetzt kommt Bewegung in die Sache. Doch die eigentlichen Streitpunkte mit der EU bleiben ungelöst.
Prokrastination ist der Fachbegriff für ein extremes Aufschieben von anstehenden Aufgaben. Frei nach dem Motto „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe ruhig auf morgen“. Schlecht allerdings, wenn am Ende der „Aufschieberitis“ ein Stichtag lauert, an dem man Ergebnisse liefern muss. Die Lösung? Man verschiebt einfach den Stichtag. Falls Sie das an den Brexit erinnert, muss man fairerweise zugestehen, dass die britische Regierung nicht ganz untätig war. Seit unserem letzten Brexit Update von Ende Januar liegen neuerliche Verhandlungen mit der EU und zahlreiche Abstimmungsrunden im Unterhaus hinter uns. Und dennoch sieht es so aus, als wäre man einer Einigung nicht viel näher gekommen.
Nachdem das britische Parlament Mitte Januar das von Theresa May vorgestellte Austrittsabkommen mit der EU ablehnte, stimmte man am 29. Januar gegen den No-Deal-Brexit. Gleichzeitig erhielt Theresa May erneut das Mandat, Änderungen am Abkommen zu verhandeln. Dabei ging es vorrangig um den Backstop, für den „alternative Arrangements“ gefunden werden sollten – ein absehbar aussichtsloses Unterfangen, da die EU wiederholt signalisiert hatte, dass der Backstop nicht verhandelbar sei.
Hessens Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir äußerte sich daher auch nur vorsichtig optimistisch: „Die Wahrscheinlichkeit eines EU-Austritts Großbritanniens ohne begleitendes Abkommen ist nach der Unterhaus-Sitzung vom 29. Januar nicht geringer geworden.“ Gleichzeitig bescheinigte er der hessischen Wirtschaft, gut auf die Unwägbarkeiten des Brexits vorbereitet zu sein: „Die meisten Unternehmen haben bereits Vorkehrungen für einen harten Brexit getroffen oder tun dies gerade. Viele Unternehmen haben ihre Lagerkapazitäten auf beiden Seiten des Kanals ausgeweitet.“
Auch das Land Hessen handelt aktiv und schafft mit dem Hessischen Brexit-Übergangsgesetz rechtliche Sicherheiten. „Unabhängig davon, was in London und Brüssel passiert, treffen wir seit Monaten Vorkehrungen, damit Hessen bestmöglich auf den Brexit vorbereitet ist“, sagten Justizministerin Eva Kühne-Hörmann und Europaministerin Lucia Puttrich, die den Gesetzentwurf vorgelegt haben.
Die meisten Unternehmen haben bereits Vorkehrungen für einen harten Brexit getroffen oder tun dies gerade.
Bleibt nur noch die Frage: Was passiert in London? Hier treten die Konflikte innerhalb der politischen Parteien immer offener zutage. Am 18. Februar formierte sich im britischen Unterhaus „The Independent Group“. Der unabhängigen Gruppe gehören zurzeit elf ehemalige Abgeordnete an – acht der Labour-Fraktion sowie drei der Conservative Party. Der Brexit zersetzt also auch die Parteienlandschaft Großbritanniens und schafft für Theresa May und Labour-Chef Jeremy Corbyn weitere Macht- und Interessenkonflikte. Der daraus resultierende politische Schlingerkurs birgt potenzielle Gefahren – auch für Hessen. „Man kann nur hoffen, dass sich die Verantwortlichen in Großbritannien noch zusammenraufen, damit wir wenigstens Regeln haben, wie es in Zukunft weitergehen soll“, sagte Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier bereits Mitte Januar. „Das, was sich jetzt dort abzeichnet, ist ein Desaster.“
Zumindest die Gefahr eines ungeregelten Brexits hat sich seit dem 27. Februar verringert. Mit großer Mehrheit von 502 zu 20 Stimmen stimmte das britische Unterhaus für eine Verschiebung des Austrittsdatums, falls das Brexit-Abkommen erneut im Parlament scheitern sollte. Diese Abstimmung soll spätestens am 13. und 14. März erfolgen. Es bleibt also spannend, denn: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Oder am Ende vielleicht doch ...?
Das, was sich jetzt dort abzeichnet, ist ein Desaster.

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