@HTAI, 11.02.2020 Stimmen zum Brexit

Zurück zu den Europa-Themen

Der erste Montag im Februar. Es ist kein ganz normaler Morgen in Brüssel, denn nach fast einem halben Jahrhundert hat Großbritannien nun offiziell die Europäische Union verlassen. Wir sprachen mit Holger Kunze, Geschäftsführer des European Office des VDMA – dem Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e.V. – in Brüssel darüber, wie es jetzt weitergeht: Brexit business as usual oder Raum für neue Themen?

Holger Kunze, Geschäftsführer European Office VDMA © Benjamin Brolet
Herr Kunze, wie nehmen Sie die Stimmung in Brüssel wahr, am ersten Arbeitstag nach dem EU-Austritt Großbritanniens?

Es wurde so lange über den EU-Austritt gesprochen und jetzt ist er eine Tatsache geworden. Das ist nicht frei von Emotionen und es herrscht ein großes Bedauern und auch eine gewisse Trauer. Auf der anderen Seite gibt es so viele zentrale Themen auf der aktuellen europäischen Agenda, dass dieses, obwohl einschneidende Ereignis, im Tagesgeschäft relativ schnell wieder in den Hintergrund geraten wird. Es wird kurzfristig wieder business as usual werden im Brüsseler Alltag. 

War das dran, sodass wieder mehr Raum für andere europäische Themen geschaffen wird? Was hat das Brexit-Thema mit seiner Dauerpräsenz vielleicht auch blockiert?

Unterm Strich muss man ja sagen, dass der ganze Brexit-Prozess die reinste Ressourcenverschwendung war. Bis wir Ende dieses Jahres ein Austrittsabkommen ratifiziert haben, wird uns das Thema vier Jahre beschäftigt haben. Ein Thema, das aber nicht auf ein Vorankommen Europas, auf eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und der Wirtschaft eingezahlt hat. Deshalb ist es gut, dass es jetzt wieder Energien und Ressourcen gibt, die man in diese anderen Themen investieren kann. Denn entscheidend ist ja: Wo geht Europa hin und wie können wir ein besseres Europa für die Bürger und für die Wirtschaft schaffen?

Heißt das, dass das Thema Brexit nun hinter uns liegt? Oder kommt das Schlimmste noch, wie manche Medien orakelt haben?

Nein, das Thema ist noch nicht vom Tisch. Wir werden uns auch im Jahr 2020 intensiv mit dem Brexit beschäftigen müssen. Erst einmal ändert sich ja fast gar nichts, weder für die Unternehmen noch für uns als Verband. Der Status quo bleibt erst einmal erhalten und die eigentlichen Effekte des Brexit werden wir erst am 1. Januar 2021 sehen. Und wie auch immer man es dreht: Es wird zukünftig schwieriger werden, mit Großbritannien Handel zu treiben, selbst wenn es zu einem Freihandelsabkommen kommt. Es wird Kontrollen an den Grenzen geben und es wird Unterschiede zwischen Großbritannien und Europa geben, die den Handel und damit die Wettbewerbsfähigkeit von Industrien auf beiden Seiten beeinträchtigen werden.

Für Ihre Verbandsmitglieder ist Großbritannien bisher einer der fünf größten Absatzmärkte gewesen, wird das so bleiben?

Das hängt natürlich sehr stark davon ab, wie Großbritannien zukünftig an Europa gebunden wird. Wir erleben jetzt schon, dass die Exporte nach Großbritannien zurück gegangen sind. Jetzt muss es darum gehen, ein Freihandelsabkommen zu schließen, das die Hürden auf ein Minimum reduziert. Wenn das nicht gelingt, wird es schwierig. Wir als Maschinenbauindustrie sind letztlich davon abhängig, dass es weiterhin eine Industrieproduktion in Großbritannien gibt. Wird es beispielsweise für die Automobilindustrie weiterhin möglich sein, in Großbritannien zu produzieren? Wenn diese Produktionsstrukturen erhalten bleiben, wird es auch weiterhin Bedarf an Maschinen geben und diese werden sicherlich auch aus Deutschland kommen. Aber so richtig optimistisch blicken wir nicht nach Großbritannien.

Unterm Strich muss man ja sagen, dass der ganze Brexit-Prozess die reinste Ressourcenverschwendung war.

HOLGER KUNZE, Geschäftsführer European Office VDMA

Holger Kunze im Interview © Benjamin Brolet

Der Binnenmarkt ist das zentrale Element für unsere Unternehmen und den sollte man erhalten.

HOLGER KUNZE, Geschäftsführer European Office VDMA

Bye-Bye Binnenmarkt? Nach dem Austritt ist vor dem Abkommen. © istpckphoto.com/ golero
Was begründet diesen Mangel an Optimismus?

Es ist in der Tat im Moment schwer vorhersehbar, ob die noch existierende Industriestruktur in Großbritannien erhalten bleibt. Das ist eine Frage, die ich so im Moment nicht beantworten kann. Die niemand so richtig beantworten kann. Eine weitere mögliche Entwicklung ist, dass Großbritannien in seiner Wirtschaftspolitik zukünftig noch stärker als eh schon auf Dienstleistungen setzen und weniger auf die Industrie schauen wird. Das sind alles Aspekte, die entscheidend sein werden, die momentan aber schwer einzuschätzen sind.

Welche Themen müssten mit Blick auf den Brexit jetzt noch im Blick behalten werden?

Es ist ja noch nicht vorbei. Innerhalb der nächsten zehn Monate muss ein Freihandelsabkommen geschlossen werden, das eine möglichst enge Bindung Großbritanniens an die EU ermöglicht. Für uns im VDMA sind wesentliche Themen, dass die Zölle wegfallen und, ganz zentral, dass die Binnenmarktregeln harmonisiert bleiben. Das betrifft vor allem die Anforderungen an Produkte. Wenn diese Anforderungen in Großbritannien andere sind als in Europa, bedeutet das eine große Hürde für unsere Unternehmen. Und natürlich muss auch zukünftig die Freizügigkeit von Arbeitnehmern gewährleistet werden. Bezogen auf den Maschinenbau wird ja keine Maschine verkauft ohne die entsprechende Dienstleistung, das setzt aber eben diese Freizügigkeit voraus. Der Binnenmarkt ist das zentrale Element für unsere Unternehmen und den sollte man erhalten. Ob das in dieser kurzen Zeit gelingen wird, kann man sicherlich bezweifeln, aber wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben. 

Wie sieht die Arbeit Ihres Verbandes in Brüssel für die nächsten Monate aus, mit Blick auf den Brexit?

In den nächsten Monaten wird es natürlich ganz konkret um die Verhandlung des Austrittsabkommens gehen, und da werden wir unsere Positionen vertreten. Ein wichtiger Punkt ist nämlich auch, dass jetzt Großbritannien keine Zugeständnisse gemacht werden, die für andere Staaten einen Anreiz bieten könnten, einen ähnlichen Weg einzuschlagen.

Es wird kein einfacher Prozess, denn jetzt muss unter großem Zeitdruck gearbeitet werden. Aber die Kanäle, die uns zur Verfügung stehen, werden wir nutzen, um die für den Maschinenbau relevanten Themen einzubringen.

Wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

HOLGER KUNZE, Geschäftsführer European Office VDMA

Schauen besonders gespannt auf die Entwicklung der britischen Wirtschaft: die deutschen Maschinenbauer. © istockphoto.com/ MarioGuti
Sie haben auf Ihrer Verbandswebsite Brexit-Checklisten für Unternehmen – sind die jetzt noch aktuell?

Tatsächlich könnten die wieder ganz aktuell werden. Denn noch ist der harte Brexit nicht endgültig vom Tisch. Kommt es bis zum Ende des Jahres zu keiner Einigung mit Großbritannien, dann sind natürlich auch solche Hilfestellungen wie die Checklisten wieder hochaktuell. Grundsätzlich kann man aber sagen, dass bei den Unternehmen momentan eher eine abwartende Grundstimmung herrscht. 

Welche Themen werden Sie im Verband in Brüssel jetzt noch beschäftigen?

So ganz losgelöst vom Brexit ist das alles nicht, denn für uns dreht es sich ja vor allem um Exportfragen. Wir schauen auf Themen wie Protektionismus und Freihandel und da auf die globalen Entwicklungen. Etwa im Umgang mit den USA und China. Und dann gibt es andere wichtige Themen, nicht zuletzt den Green Deal, der, mit der angestrebten Klimaneutralität bis 2050, das Transformationsthema für unsere Industrie ist. Auch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sind Transformationsthemen und in all diesen Bereichen müssen wir natürlich Position beziehen und schauen, dass die richtigen politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Und über den Tellerrand geschaut: Was sind jenseits der Wirtschaft noch Themen, die jetzt entscheidend für Europa sind?

Jetzt wird eine Richtungsbestimmung für Europa notwendig. Wir haben im VDMA schon 2017 begonnen eine Vision für die Zukunft Europas zu entwickeln. Und wir sind der Auffassung, dass es auf jeden Fall Reformbedarf gibt. Etwa im Bereich der Handelsthemen: dort, wo die EU zuständig ist, die Einstimmigkeit abzuschaffen und mehr Mehrheitsentscheidungen zuzulassen. Es sollte auch stärker getrennt werden zwischen Zuständigkeiten der EU und Zuständigkeiten der Länder. Wo die EU zuständig ist, sollte es schlankere Entscheidungsprozesse geben. Das sind Themen, die jetzt stärker auf die Agenda gehören und, etwa mit den „Future of Europe“-Konferenzen, auch verstärkt in den Fokus rücken. Und daneben gibt es Themen, wie Migration, die die europäische Einigung in seinen Grundfesten erschüttern. Das darf nicht untergehen, da brauchen wir jetzt innovative Lösungen.

Herr Kunze, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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