Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
für die Herbstausgabe unseres Brexit-Updates nehmen wir Irland in den Fokus. Wirtschaftlich, aber auch historisch und sprachlich traditionell eng verbunden mit dem Vereinigten Königreich, vollzieht sich auf der Grünen Insel mit dem EU-Austritt Großbritanniens eine Neuorientierung in Richtung Kontinentaleuropa. Wo zuvor britische Produkte den Markt dominiert haben, können heute deutsche Produkte nachrücken: Made in Germany genießt einen guten Ruf in Irland. Welche Chancen sich dadurch für hessische Unternehmen ergeben, was es in der Zusammenarbeit mit irischen Partnerinnen und Partnern zu beachten gilt und welche Potenziale es zu entdecken gibt, erzählte uns David Parkmann, Head of International bei der Deutsch-Irischen Industrie- und Handelskammer in Dublin.
In unserem Übersichtsartikel blicken wir auf Nordirland und die aktuelle Lage vor Ort. Im Zuge des Brexit-Prozesses wurde das Thema Nordirland meist als einer der Stolpersteine für einen spannungsfreien EU-Austritt Großbritanniens gehandelt. Wie ist die Situation heute? Wird das Nordirland-Protokoll eingehalten? Welche Themen sorgen für Spannungen und wie gestalten sich die hessisch-irischen Beziehungen?
In unserem Veranstaltungstipp finden Sie hilfreiche Termine, die Rüstzeug für die Vertragsgestaltung mit britischen Geschäftspartnern bieten.
Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre, bleiben Sie gesund.
Ihr Dr. Rainer Waldschmidt,
Geschäftsführer Hessen Trade & Invest GmbH
Wo zuvor britische Produkte den Markt dominiert haben, können heute deutsche Produkte nachrücken: Made in Germany genießt einen guten Ruf in Irland.
Stimmen zum Brexit
„Da ist Musik drin“
Finanzwirtschaft, Digitalwirtschaft, Brexit: Aufbruchsstimmung ist in Irland ein bekanntes Gefühl. Mit der Post-Brexit-Ära und einer vorsichtigen Annäherung an Prä-Covid-Gegebenheiten ist dieser Optimismus zurück und rückt die Grüne Insel erneut in den Fokus. Damit zeigt Irland großes Potenzial, gerade auch für hessische Unternehmen. Darüber sprachen wir mit David Parkmann, Head of International bei der Deutsch-Irischen Industrie- und Handelskammer.
„Da ist Musik drin“, antwortet David Parkmann prompt auf die Frage, wie die Stimmung in Irland dieser Tage ist. Sein Blick auf Irland ist unverstellt – seit einigen Monaten ist er in Dublin, nach langen Stationen in Tschechien und zuvor Bosnien-Herzegowina. Das sorgt für eine sehr europäische Perspektive beim Blick auf die Entwicklung, die sich in Irland nach dem EU-Austritt Großbritanniens vollzieht. Parkmann sagt, dass es ein spannendes Bild mit viel Dynamik ist, das sich hier vor Ort zeichnet.
Der Brexit hat eine Verschiebung bewirkt. Traditionell war das Vereinigte Königreich Irlands wichtigster Wirtschaftspartner, und so ging der Blick eher Richtung London oder auch in die USA. Über eine Milliarde Euro betrug der Wert des wöchentlichen Warenverkehrs zwischen Irland und dem UK vor dem Brexit. Historisch, regional, sprachlich – auch von außen betrachtet sah man die Nachbarn so nah, dass das Irland-Geschäft ausländischer Unternehmen oft von London aus mitbetreut wurde.
Diese Wahrnehmungen verschieben sich jetzt, es muss umgedacht werden. David Parkmann berichtet, dass die irische Perspektive Kontinentaleuropa stärker in den Fokus nimmt, und umgekehrt geschieht etwas, was sich die Iren in ihren Wirtschaftsbeziehungen schon lange gewünscht hätten: „Irland ist natürlich ein übersichtlicher Markt mit gut 5 Millionen Einwohnern. Aber es ist ein interessanter Markt mit Potenzialen für Unternehmen aus den Bereichen IT und Software, Pharma, Biotech, Medizintechnik, Finanzdienstleistungen und Agrarwirtschaft. Man hat sich aus irischer Perspektive immer daran gestört, oft als Insel hinter der Insel wahrgenommen zu werden.“
Hessische Perspektiven in Irland
Für hessische Unternehmen bieten sich spannende Perspektiven, das sieht man auch in der Politik. Lucia Puttrich, Hessische Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten, bringt die Bedeutung Irlands für hessische Unternehmen auf den Punkt:
„Irland gehört zum europäischen Binnenmarkt und ist damit ein wichtiger Handelspartner für die hessische Wirtschaft. Jedes Jahr exportiert die hessische Wirtschaft Waren im Wert von etwa 400 Mio. Euro nach Irland. Bestand vor dem Brexit beim Handel noch eine enge Verflechtung zwischen Irland und Großbritannien, sorgen neu erhobene Zölle und bürokratische Hemmnisse zunehmend dafür, dass sich irische Unternehmen neu orientieren. Diese Chance können wir nutzen. Dabei helfen die Vorteile des europäischen Binnenmarktes, wie Zollfreiheit, Kapital- und Niederlassungsfreiheit sowie gemeinsame technische Standards in vielen Bereichen. Wesentlich dafür wird sein, dass der Handelsaustausch zwischen Irland und Deutschland nicht aufgrund der besonderen geografischen Gegebenheiten Irlands gestört wird, denn bisher liefen viele Warenströme über Großbritannien nach Kontinentaleuropa. Das ist ebenso eine Herausforderung wie die bisher noch ungeklärte Fragestellung der EU-Außengrenze zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich.“
Jedes Jahr exportiert die hessische Wirtschaft Waren im Wert von etwa 400 Mio. Euro nach Irland.
David Parkmann stützt diese positive Einschätzung und ermutigt hessische Unternehmen, Irland stärker in den Blick zunehmen: „Made in Germany genießt einen guten Ruf in Irland. Qualität und Zuverlässigkeit sind Werte, die irische Unternehmen an deutschen Partnern schätzen. Für hessische Zulieferer liegen hier große Potenziale. Von den über 4.400 Produktgruppen, die Irland bisher aus dem Vereinigten Königreich importiert hat, werden die deutschen Alternativen zukünftig in über 61 Prozent der Fälle günstiger sein.“
Was hessische Unternehmen in Irland beachten sollten
Diese irische Dynamik gilt es zu nutzen. Wo liegen aber vielleicht Schwierigkeiten und Stolpersteine, die hessische Unternehmen im Blick haben sollten, wenn es sie nach Irland zieht? „Ein wichtiger Punkt beim Aufbau von Beziehungen mit irischen Partnern ist die Verbindlichkeit des Persönlichen, die Kommunikation auf Augenhöhe. Nehmen Sie sich Zeit für das Kennenlernen. Reden Sie nicht sofort über das Geschäft, sondern gönnen Sie sich 10 bis 15 Minuten für Smalltalk. Gerne auch über Deutschland, aus irischer Perspektive ist Deutschland noch nicht so vertraut und ein spannendes Thema. Voraussetzung ist dabei die Sprache. Irische Partner setzen einen Kontakt voraus, der fließend und auf gutem Niveau Englisch spricht, und dieses Sprachniveau sollte sich in Dokumenten, auf der Website und in Marketingmedien spiegeln.“
Parkmann weiß, wovon er spricht. Die Deutsch-Irische Industrie- und Handelskammer unterstützt Unternehmen bei der Anbahnung von Geschäftsbeziehungen nach Irland. Und das von der ersten Idee bis zur Unterstützung bei Steuerthemen oder der Mitarbeiterentsendung im Arbeitsalltag in Irland: „Unternehmen, die mit dem Gedanken spielen, ihre Beziehungen nach Irland auszubauen, sollten sich unsere Delegationsreisen anschauen, die jetzt wieder verstärkt angeboten werden. Das ist die einmalige Chance, Irland unter branchenspezifischen Aspekten kennenzulernen. Und das Angebot reicht von Reisen für Restaurierungsbetriebe über das Thema Energieeffizienz und Deutschen Wein bis hin zu grünem Wasserstoff. Vom Handwerksunternehmen bis zum Innovationsgestalter, hessische Unternehmen treffen in Irland auf beste Bedingungen. Grund genug, die Grüne Insel näher zu betrachten.“
Von den über 4.400 Produktgruppen, die Irland bisher aus dem Vereinigten Königreich importiert hat, werden die deutschen Alternativen zukünftig in über 61 Prozent der Fälle günstiger sein.
Hessen Trade & Invest
Von leeren Versprechungen und leeren Regalen
Ein zentraler Streitpunkt der Brexit-Verhandlungen war die Rolle der irischen Insel. Das Nordirland-Protokoll schien das Problem zu lösen, doch eingehalten wird es von britischer Seite nicht. Die hat unterdessen andere Sorgen: Leere Supermarktregale und fehlender Treibstoff sorgen für Unmut in der Bevölkerung.
Fast fühlt man sich in die Zeiten zurückversetzt, als zwischen der EU und Großbritannien noch um einen Vertrag gerungen wurde: Drohungen, Kompromissvorschläge, Eskalationen. Das Brexit-Chaos scheint kein Ende zu nehmen – trotz gültigem Austrittsvertrag. Dieses Mal geht es um das Nordirland-Protokoll und damit um die Frage, ob und wo zwischen dem Vereinigten Königreich und der Republik Irland Warenkontrollen stattfinden sollen.
Nordirland-Protokoll als Voraussetzung für Frieden
Das Nordirland-Protokoll soll dazu dienen, auf der irischen Insel keine neue Grenze entstehen zu lassen und den ohnehin brüchigen Frieden in der ehemaligen Bürgerkriegsregion nicht zu gefährden. Es bedingt aber auch, dass Waren aus England, Schottland oder Wales kontrolliert werden müssen, wenn sie nach Nordirland verfrachtet werden.
Das wiederum stört den britischen Innenhandel – ein Problem, für das sich London und Brüssel nun gegenseitig verantwortlich machen. Doch während die EU Kompromissvorschläge erarbeitet, setzen die Briten anscheinend auf Konfrontation. Auch, weil sie die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) als oberstes Schiedsgericht nicht akzeptieren wollen – obwohl sie dazu im Nordirland-Protokoll zugestimmt hatten. Mitte September drohte der britische Brexit-Minister David Frost damit, die Regelungen des Brexit-Vertrags mit einer Notfallklausel außer Kraft zu setzen. Die Drohung stieß bei der EU auf Unverständnis.
Irland kritisiert Großbritanniens Haltung zu Nordirland
Anfang Oktober schaltetete sich auch der irische Außenminister Simon Coveney in die Debatte um das Nordirland-Protokoll ein. „Jedes Mal, wenn die Europäische Union neue Ideen und neue Vorschläge zur Lösung von Problemen vorlegt, werden sie vor ihrer Veröffentlichung abgewiesen“, kritisierte er seinen britischen Amtskollegen. Bisher fruchtete die Kritik jedoch nicht: Die britische Regierung definiert Vertragstreue auf ihre ganz eigene Art und setzt entsprechende Regelungen zu Nordirland weiterhin einseitig aus.
Wie lange die Geduld der EU noch reicht, wird sich wohl bald zeigen. Bereits im Juni hatte EU-Vizepräsident Maros Sefcovic gesagt: „Wenn die britische Regierung weitere unilaterale Handlungen ergreift, muss Großbritannien durch alle zur Verfügung stehenden Mittel zur Vertragstreue bewegt werden.“ Konkret ging es damals um Strafzölle auf die Einfuhr britischer Güter in die EU.
Leere Regale als Folge des Nordirland-Protokolls?
Der Behinderungen im Binnenhandel und die Auswirkungen der Corona-Pandemie lieferten der britischen Regierung bisher willkommene Gründe, um die leeren Supermarktregale und Tankstellen ohne Treibstoff zu erklären. Doch das Unverständnis in der Bevölkerung scheint zu wachsen. Denn die Mangelwirtschaft ist vielmehr Ausdruck fehlender ausländischer Lastwagenfahrer. Viele von ihnen hatten während der Pandemie Großbritannien verlassen, als sie ihre Jobs verloren oder in Kurzarbeit geschickt wurden. Wegen der strengen Zuwanderungsregeln seit dem Brexit dürfen nun aber viel weniger Menschen zurück ins Land. Zudem fanden viele Fahrer auf dem EU-Festland besser bezahlte Jobs.
Hessens Landesregierung bewertet Brexit-Auswirkungen …
Wenn die britische Regierung weitere unilaterale Handlungen ergreift, muss Großbritannien durch alle zur Verfügung stehenden Mittel zur Vertragstreue bewegt werden.
Auch die deutsch-britischen Beziehungen haben sich spürbar verändert. Die wirtschaftlichen Hoffnungen der Brexit-Befürworter erfüllen sich nicht und für Deutschland verliert das Königreich zunehmend an ökonomischer Bedeutung. „Schon in diesem Jahr könnte Großbritannien aus den TOP 10 der wichtigsten Handelspartner für Deutschland rutschen“, sagte Lucia Puttrich, hessische Europaministerin, Mitte September in ihrer Bewertung zum Sachstand des Brexit. „Damit verbunden sind nicht nur wirtschaftliche Auswirkungen vor allem in Großbritannien, sondern wir befürchten auch bei Umwelt- oder Arbeitsstandards sowie im Bereich der Bürokratie ein zunehmendes Auseinanderdriften. Das müssen wir gemeinsam verhindern, denn eine Rückkehr des Vereinigten Königreiches in die EU sollte unser aller Ziel bleiben.“
… und wirbt für Finanzplatz Frankfurt
Der Brexit schaffte zudem eine neue Ausgangslage im innereuropäischen Standortwettbewerb. Hessen brachte hierzu eine Bundesratsinitiative ein, die die Bundesregierung auffordert, sich innerhalb der EU aktiver für Standorte in Deutschland einzusetzen. „Das Anliegen unseres Antrages ist es, den Standortvorteil Frankfurts weiter auszubauen. Wir haben uns zum Beispiel seit langem für die Ansiedlung einer Anti-Money Laundering Authority (AMLA), der EU-Behörde zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, eingesetzt. Wir sind der Bundesregierung dankbar, dass sie kürzlich auch ganz offiziell ihre Unterstützung für diese wichtige Standortfrage bekundet hat“, so Puttrich.
Eine Rückkehr des Vereinigten Königreiches in die EU sollte unser aller Ziel bleiben.
Republik Irland ist interessanter Wirtschaftspartner für Hessen
Je mehr Großbritannien als Handelspartner für hessische Unternehmen an Attraktivität verliert, desto erfolgversprechender könnten Beziehungen zu Irland werden. Das betont auch Bernd Kistner, Referatsleiter im hessischen Wirtschaftsministerium: „Viele irische Unternehmen suchen nach neuen Kunden und Lieferanten auf dem Kontinent. Das bietet Chancen für Unternehmen der hessischen Außenwirtschaft. Bereits heute ist Irland für Hessen ein wichtiger Handelspartner, etwa als Zielmarkt für Chemie- und Pharmaprodukte oder auch als Quellmarkt für Erzeugnisse der Nahrungsmittelindustrie. Die gute berufliche und akademische Qualifikation der jungen Generation in Irland macht den Standort in Westeuropa interessant. Im Rahmen der Geschäftspartnervermittlung stellt unsere Wirtschaftsförderung Hessen Trade & Invest gern Kontakte zu Unternehmen in Irland her.“
Brexit-Drama noch lange nicht „over“?
Irland und Nordirland dürfen nicht in Bürgerkriegszeiten zurückfallen. Das muss der zentrale Gedanke bei allen anstehenden Verhandlungen sein. Doch hierbei wurde bereits viel Vertrauen verspielt. Europäer und Briten erfuhren bittere Lektionen über Vertragstreue, Verlässlichkeit und ihre wahre weltpolitische Größe. Die EU jedenfalls scheint gewillt zu sein, Raum für einen weiteren Dialog mit Großbritannien zu schaffen. Aus den Reihen der Kommission heißt es schon seit langem: Wir brauchen eine dauerhafte Lösung.
Quellen:
Spiegel: „Irland kritisiert Großbritanniens Umgang mit Nordirland“
Frankfurter Allgemeine: „Brexit, Brexit und kein Ende“
Frankfurter Allgemeine: „Wie Nordirland mit dem Brexit hadert“
Citywire: Debatte: „Wie sieht die Zukunft des Finanzplatzes Frankfurt aus?“
Hessische Staatskanzlei: „Folgen des Brexit – Landesregierung wirbt für Finanzplatz Frankfurt“
Die gute berufliche und akademische Qualifikation der jungen Generation in Irland macht den Standort in Westeuropa interessant.
Information
Veranstaltungen zum Thema Brexit
Die wichtigsten Veranstaltungen zum Thema Brexit auf einen Blick. Bleiben Sie informiert, diskutieren Sie mit.

Virtuelle Veranstaltung: „Brexit – Worauf ist bei der Vertragsgestaltung mit britischen Geschäftspartnern zu achten?“
Mit dem Brexit-Abkommen stellen sich neue Herausforderungen an die Abwicklung von Geschäftsbeziehungen mit Geschäftspartner im Vereinigten Königreich. Schwerpunkt der Veranstaltung sind die rechtlichen Bestimmungen zum grenzüberschreitenden Warenverkehr nach Brexit.
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