Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
willkommen zurück aus der Sommerpause heißt in diesem Falle leider auch willkommen zurück in den Wirren des Brexit.
Was ist passiert? Während der Sommerferien wird es bekanntlich um viele Themen der Politik etwas ruhiger. Doch für die Briten war an ein wohlverdientes Aufatmen nicht zu denken. Mit Boris Johnson hat am 24. Juli ein Brexit-Hardliner die Nachfolge Theresa Mays als britischer Premierminister angetreten. Seine Mehrheit im britischen Parlament ist gering und die Zeit bis zum angedachten EU-Austritt Großbritanniens am 31. Oktober 2019 ist denkbar kurz.
Wir wollen diese Ausgabe des Brexit-Newsletters nutzen, um Ihnen einen Überblick zu geben über die aktuellen Entwicklungen in Großbritannien, aber auch bei uns vor Ort in Hessen.
Denn allen Unklarheiten zum Trotz präsentiert sich Hessen weiterhin als überzeugender, starker Wirtschaftsstandort. Diese Stabilität in den Wirtschaftsbeziehungen zahlt sich aus, gerade auch, wenn ein No-Deal-Brexit immer stärker in den Bereich des Wahrscheinlichen rückt.
Und wir werfen wieder einen Blick hinter die Kulissen einer hessischen Erfolgsgeschichte. Wir trafen Michael Möller, Geschäftsführer der WIKUS-Sägenfabrik, zum Gespräch. Das Unternehmen ist Hessen-Champion im Bereich Innovation und ein gutes Beispiel dafür, dass hessische Unternehmen in der ganzen Welt erfolgreich sind. Der internationale Erfolg ist auch ein Grund, sich den Blick auf das Geschehen am Weltmarkt nicht durch den Brexit verstellen zu lassen. Ein guter Impuls, den wir gerne teilen.
Ich wünsche Ihnen eine informative Lektüre!
Ihr Dr. Rainer Waldschmidt,
Geschäftsführer Hessen Trade & Invest GmbH
Allen Unklarheiten zum Trotz präsentiert sich Hessen weiterhin als überzeugender, starker Wirtschaftsstandort.
Stimmen zum Brexit
„Das kommt ja nicht ganz unverhofft.“ – Wir trafen Michael Möller von der WIKUS-Sägenfabrik
Wenn sich der Besuch in einer Sägenfabrik im nordhessischen Spangenberg plötzlich ein bisschen wie in einem urbanen Start-up anfühlt, wächst die Neugier, welcher Wind hier weht. Und wie der für seine Innovationskraft ausgezeichnete Mittelständler WIKUS auf die Herausforderungen unserer Zeit reagiert. Wir trafen Geschäftsführer Michael Möller.
Sie sägen sich durch Metall, Glas, Naturstein, Beton und auch Holz. Die Sägebänder der WIKUS-Sägenfabrik sind „made in Nordhessen“. Im beschaulichen Städtchen Spangenberg produziert, werden sie in alle Welt vertrieben.
Nähert man sich der Sägenfabrik, fällt der Blick auf das Schloss Spangenberg, das vor sommerlich blauem Himmel über dem Ort sitzt. Wer sich allerdings von der gemächlichen Stimmung des Sommertages täuschen lässt, erlebt eine Überraschung, wenn er die neue Firmenzentrale der Sägenfabrik betritt.
2018 eröffnet, ist das moderne Administrationsgebäude eine starke Aussage. Denn wer vielleicht soliden, aber schwerfälligen Mittelstand erwartet hat, der wird schnell eines Besseren belehrt. Das WI.com genannte Gebäude macht die erfolgreiche Verschmelzung lokaler Wurzeln mit globaler Strategie und Innovationsgeist erlebbar. Während in den benachbarten Werkshallen die Sägebänder ihre Reise um die Welt antreten, steht die Offenheit und Flexibilität der modernen Architektur für ein neues Arbeiten. „Offenheit in Raum und Kopf ist die Philosophie, die wir hier leben“, bestätigt Michael Möller, einer der Geschäftsführer, den Eindruck nicht ohne Stolz. „Da sind wir vielleicht ein bisschen das Google der Metallindustrie.“
600 Mitarbeiter arbeiten am Standort Spangenberg sieben Tage die Woche an der Erfolgsgeschichte des Mittelständlers. Und im Gespräch mit Geschäftsführer Michael Möller wird schnell deutlich, dass die kontroversen Themen des Welthandels und der Brexit hier ganz nah sind.
Um eine Einordnung gebeten, welche Auswirkungen der Brexit auf das Unternehmen hat, findet Michael Möller klare Worte:
„Der Brexit ist relevant, aber ganz persönlich glaube ich, dass die Themen, die den Brexit heute wirtschaftlich anbelangen, alle schon erledigt sind. Die Wirtschaft hat sich auf den Brexit eingestellt und diesen auch eingepreist. Wir tun zwar gerade so, als ob es ein Thema der letzten neun Monate ist. Aber die Situation ist ja nicht ganz unverhofft.“ Schließlich sei das Thema seit 2016 auf der Agenda, macht Möller deutlich.
So klingt ein Unternehmen, das sich seiner eigenen Resilienz in Krisen bewusst ist. Nachgefragt, woher die Sicherheit im Umgang mit wirtschaftlich herausfordernden Zeiten kommt, bringt Michael Möller die Finanzkrise von 2009 ins Spiel: „Quasi von heute auf morgen sind uns 30 bis 40 % Umsatz weggebrochen. Im 51. Jahr unserer Firmengeschichte mussten wir zum ersten und einzigen Mal Kurzarbeit einführen und uns zu betriebsbedingten Entlassungen durchringen.“ Von den Mitarbeitern, die das Unternehmen damals mit Aussicht auf Wiedereinstellung verlassen mussten, ist der Großteil zurückgekehrt.
Der Brexit ist relevant, aber ganz persönlich glaube ich, dass die Themen, die den Brexit heute wirtschaftlich anbelangen, alle schon erledigt sind. Die Situation ist ja nicht ganz unverhofft.
Konsequenter Erfolg: in 60 Jahren keine rote Zahl
Möller betont, dass die konsequente Reaktion des Unternehmens erfolgreich war. WIKUS ging mit einem positiven Ergebnis aus dem Geschäftsjahr hervor. „Das Unternehmen hat in 60 Jahren keine rote Zahl geschrieben“, erklärt er.
Die Krise war auch ein Lernen: „Die Fragen, die wir für uns beantworten wollten, waren: Wie können wir solche Situationen zukünftig besser beheben? Wie können wir schneller und zielorientierter solche Tendenzen erkennen?“, beschreibt Möller die Situation. „Auch wenn das vielleicht bedeutet, kurzfristig einschneidende Entscheidungen zu treffen.“
Eine Konsequenz war die stärkere Internationalisierung und Diversifizierung der Unternehmensstrukturen. Näher dran an den wichtigsten Märkten und somit auch besser informiert über Entwicklungen, die Einfluss auf das eigene Unternehmen haben könnten. Die Strategie zahlt sich aus: Das Unternehmen ist heute mit acht Tochtergesellschaften weltweit vertreten – in den USA, Kanada, Indien, aber eben auch in Europa, wo WIKUS mit über 40 % Marktanteil Marktführer ist.
Global handeln, lokal denken
Doch zurück zum Brexit. Erstaunlich entspannt scheint hier die Unternehmensperspektive auf die möglichen Brexitszenarien. Der Austausch mit den Geschäftspartnern vor Ort war ein wichtiges Element, wie Möller sagt: „Wir haben natürlich mit unseren Partnern in UK gesprochen und gefragt, wie sie die Situation sehen. Und wir haben beobachtet, wie sich das englische Pfund entwickelt, das ja nach dem Referendum erheblich an Wert verloren hat, wodurch die Situation im Markt für unsere Vertriebspartner schwieriger geworden ist. Das haben wir kompensieren können. Tatsächlich haben wir seit 2016 keinen großen Einbruch erlebt, sondern ein kontinuierliches Umsatzwachstum.“
Es sind andere Themen, die in Spangenberg gerade im Vordergrund stehen, sagt Michael Möller: „Andere Krisenherde sind momentan viel wichtiger: Der Irankonflikt, das Thema Trade War zwischen den USA und China oder auch zwischen der EU und den USA bezüglich der Zölle und die Unberechenbarkeit der daraus resultierenden Entscheidungen der Akteure.“
Grundsätzlich ist man bei WIKUS bestrebt, ein Auge auf die Entwicklungen in den wichtigen Märkten zu haben, denn man muss Krisen erkennen, um darauf reagieren zu können. Dann ergeben sich auch Handlungsmöglichkeiten, so Möller: „Spielraum habe ich immer, ich muss ihn nur sehen.“
Spielraum habe ich immer, ich muss ihn nur sehen.
Was bleibt zu tun?
Bei WIKUS steht die Eigentümerfamilie im Mittelpunkt und trägt Entscheidungen wesentlich mit. Darin steckt die Verbindlichkeit. Verbindlichkeit steht auch hinter der Entscheidung, in den letzten fünf Jahren allein 50 Millionen Euro am Standort zu investieren. Das signalisiert eine klare Entscheidung für Spangenberg als Produktionsort, an dem Produkte produziert werden, die den Wettbewerb aus den sogenannten Billiglohnländern ausstechen. Man merkt, dass sich Eigendynamik und Offenheit hier effizient ergänzen.
Möller benennt auch die Rahmenbedingungen als grundlegend, wie etwa den Ausbau des Breitbandnetzes, ohne den man nicht über Digitalisierung zu reden brauche. Die Infrastruktur, das Logistiknetzwerk sind hervorragend, sagt er: „Ich sehe viele Vorteile, Sicherheit, politische Sicherheit, Infrastruktur – all das sind Themen, die auch Investoren wichtig sind. Als einen Schwachpunkt sehe ich noch das Thema digitale Infrastruktur.“
Auf die Frage, was sich ein innovationsstarker Mittelständler wie WIKUS dann noch wünschen könnte, hat Michael Möller eine klare Antwort: „Mittelständler wie wir sind gerade von Seiten der Politik etwas aus dem Fokus geraten. Dabei sind hier die meisten Arbeitsplätze angesiedelt und aus diesen Unternehmen kommen auch die meisten Patente. Ich würde mir wünschen, dass die Politik diese Unternehmen wieder verstärkt ins Zentrum ihrer Arbeit stellt und den Wirtschaftsförderungen entsprechende Möglichkeiten an die Hand gibt.“
Aber Möller gibt sich auch durchaus selbstkritisch: Viele Mittelständler hätten sich in der Vergangenheit eher zurückgezogen gezeigt und wenig geöffnet. Aber in dieser Hinsicht sei ein deutlicher Umbruch in den Unternehmen zu bemerken. Und dann, so Möller, müsse man vielleicht nicht mehr vom Hidden Champion sprechen: „Entweder ist man Champion oder eben nicht. Aber Hidden Champion passt nicht zusammen.“
In Spangenberg gehört das solide Selbstvertrauen zum Handwerkszeug. Und das ist vielleicht das Geheimnis, das die Resilienz und Innovationskraft des Unternehmens begründet.
Entweder ist man Champion oder eben nicht. Aber Hidden Champion passt nicht zusammen.
Unternehmensinformation
„Made in Nordhessen“: Die WIKUS-Sägenfabrik ist Weltmarktführer in der Fertigung von Hochleistungs-Sägebändern, speziell für das Sägen von Metall. Vor 60 Jahren im nordhessischen Spangenberg gegründet, ist das Unternehmen heute in dritter Generation familiengeführt und beschäftigt weltweit 750 Mitarbeiter, 600 davon allein in Spangenberg, wo die Produktion angesiedelt ist. 2018 wurde die WIKUS-Sägenfabrik als Hessenchampion im Bereich Innovation ausgezeichnet. Mehr Informationen:
Hessen Trade & Invest
No-Deal-Schreck an Halloween?
Der Ton wird rauer: Theresa May ist Geschichte, Boris Johnson neuer Premierminister Großbritanniens. Der Brexit-Hardliner will den Ausstiegsvertrag mit der EU neu verhandeln, doch die lehnt ab. Ein No-Deal-Brexit Ende Oktober wird immer wahrscheinlicher.
„Süßes oder Saures?!“ Das hört man an Halloween auch an hessischen Haustüren immer öfter, wenn Kinder und Jugendliche in gruseliger Verkleidung um Süßigkeiten bitten. Am 31. Oktober 2019 könnte auch das jahrelange Brexit-Gezerre mit einem Schrecken enden – nicht umsonst wird der vereinbarte Austrittstermin auch als Halloween-Brexit bezeichnet. Großbritanniens neuer Premierminister Boris Johnson macht jedenfalls deutlich, dass er den Brexit unter allen Umständen vollziehen wird, „ohne Wenn und Aber“. Notfalls eben auch ungeregelt.
Kompromisslos gab sich Johnson bereits bei seiner Kabinettsumbildung. Insgesamt 17 Kabinettsminister mussten gehen (oder gingen freiwillig) und wurden durch Brexit-Befürworter und Johnson-Fans ersetzt. Die britische Presse sprach von einem „Kehraus“, „Massaker“ und „Blutbad“. Und was hält die britische Bevölkerung davon? Auf seiner Tour durch das Land schlug Johnson teils heftige Ablehnung entgegen: In Wales bangen Landwirte um EU-Fördergelder, in Schottland wird ein neues Referendum zum Austritt aus dem Vereinigten Königreich wieder ins Spiel gebracht und Nordirland kann sich sogar eine Vereinigung mit der Republik Irland vorstellen, um eine harte Grenze zu umgehen.
Das Brexit-Chaos geht also weiter. Das bekommt auch das britische Pfund zu spüren. Die Rhetorik der neuen Regierung sorgte für einen Kursrutsch am Devisenmarkt, das Pfund verlor binnen vier Tagen rund 3 Prozent an Wert. Britische Aktien stiegen hingegen. Sie profitieren eher von einem schwachen Pfund und der Aussicht auf eine unterstützende Geldpolitik der Notenbank.
„Der bevorstehende Brexit belastet den deutsch-britischen Außenhandel. Die deutschen Exporte nach Großbritannien verringerten sich von 2015 bis 2018 um 7,8 Prozent.“ Zu diesem Ergebnis kommt das Institut der deutschen Wirtschaft iwd auf Grundlage von Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Hessen schneidet dabei noch relativ gut ab: Hier betrug der Exportrückgang nur 6 Prozent und die Importe aus Großbritannien konnten sogar gegen den bundesweiten Trend um rund die Hälfte gesteigert werden.
Auch im internationalen Standortwettbewerb kann sich Hessen weiterhin gut behaupten. Von 193 ausländischen Firmen, die sich 2018 neu in Hessen ansiedelten, kamen 29 aus Großbritannien. „Neben den bestehenden 29 Neuansiedlungen oder Erweiterungen aus dem Vereinigten Königreich haben elf weitere internationale Investoren den geplanten Brexit als Grund angegeben“, informierte Hessens Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir. „Die Hessische Landesregierung bedauert den Brexit als großes Unglück für Europa. Aber sie hat auch unverzüglich reagiert und bei ausländischen Unternehmen für Hessen als neuen Brückenkopf in der EU geworben.“
Der bevorstehende Brexit belastet den deutsch-britischen Außenhandel.
Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier reiste Anfang Juli mit einer großen Delegation in die USA, um amerikanische Banken vom Finanzstandort Frankfurt als Nachfolger Londons zu überzeugen. „Mit Boris Johnson könnte ein ungeregelter Brexit sehr herb werden“, sieht Bouffier die Lage eher kritisch. Doch dass amerikanische Mitarbeiter von London nach Frankfurt umziehen, sei eher unrealistisch. Wenn kämen sie direkt aus den USA. „Dafür will ich hier werben“, so der Ministerpräsident.
Ein Hoffnungsschimmer besteht allerdings noch: Wenn das britische Parlament nach seiner Sommerpause wieder zusammentritt, könnte Boris Johnson ein Misstrauensvotum der Opposition erwarten. Sollte er dieses nicht überstehen und es zu Neuwahlen kommen, könnte es zu Halloween vielleicht doch noch Süßes statt Saures geben.
Mit Boris Johnson könnte ein ungeregelter Brexit sehr herb werden.
Information
Basiswissen in Stichworten
Die Verhandlungen rund um den Brexit werfen immer wieder neue Fragen auf. In relevantem Basiswissen rund um den Brexit wollen wir erklären, was bleibt, was sich ändern könnte und was nun wichtig wird im Verhältnis der Handelspartner Europäische Union und Vereinigtes Königreich.
Diesmal erklärt: Halloween-Brexit.