@HTAI, 26.06.2020 Hessen Trade & Invest

Von Videokonferenzen, dem Tiger im Tank und roten Linien: der Stand der Brexit-Verhandlungen

Gut drei Jahre nach dem Brexit-Referendum und sechs Monate vor dem Ende der Übergangsphase nehmen die Brexit-Verhandlungen erneut an Fahrt auf. Wenn auch ganz im Stil der Zeit: per Videokonferenz. Ein Verhandlungsergebnis muss her und in Hessen ist man ganz realistisch mit Blick auf den Verhandlungsausgang: Man wappnet sich für ein No-Deal-Szenario.

#oneclicktoeurope – alles zum Stand der Brexit-Verhandlungen im Livestream aus der Hessischen Landesvertretung © Hessische Landesvertretung

First things first: Wie steht es um den Brexit? Gut drei Jahre nach dem Referendum, das Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union besiegelte, ist der Austritt zwar vollzogen, die Verhandlungen über zukünftige (Handels-)Beziehungen sind aber noch immer nicht beendet. Bedingt durch die Coronakrise muss auch die Politik in der Kommunikation neue Wege gehen und so fand das jüngste Spitzentreffen der Präsidenten von EU-Kommission, Rat und Europaparlament, Ursula von der Leyen, Charles Michel und David Sassoli, mit dem britischen Premierminister Boris Johnson am 15. Juni per Videokonferenz statt.

Müdes Kätzchen statt Tiger im Tank

Ein klares Ergebnis brachte auch diese Runde der Gespräche nicht. Beschlossen ist, dass man im Lauf des Julis die Gespräche intensivieren und möglichst noch im Herbst zu einer Einigung kommen will. Premierminister Johnson sagte selbst, für die Brexit-Verhandlungen müsse man nun „den Tiger in den Tank packen“, und er schließt nicht aus, dass man noch im Juli zu einer Einigung kommen könnte.

Auf europäischer Seite bereitet man sich weiterhin auf zwei Szenarien vor: Das eine Szenario würde eine Ratifizierung eines Abkommens vor Ende 2020 bedeuten. Das wäre aller Wahrscheinlichkeit nach ein sehr minimales Handelskommen. Rote Linien, die Boris Johnson gezogen hat, wie Governance-Fragen des Europäischen Gerichtshofs, staatliche Beihilfen, Fischereirechte oder die Übernahme von EU-Standards sind noch immer nicht geklärt. In anderen Bereichen, wie der künftigen Zusammenarbeit in Außenpolitik, Verteidigung sowie Sicherheit und Entwicklung, haben die Gespräche noch gar nicht begonnen.

Das zweite Szenario heißt weiterhin „No Deal“. Das hieße, dass es Anfang 2021 zum harten wirtschaftlichen Bruch mit Zöllen und anderen Handelshemmnissen kommt. Was beide Seiten aber klar zum Ausdruck brachten, war, dass es wohl keine Verlängerung der Übergangsphase geben werde, es müsste bis zum 1. Juli entschieden werden.

Der Brexit, ein Wahlversprechen

Premierminister Johnson betonte in der Videokonferenz, man könne nicht erwarten, dass Großbritannien nach Jahresende weiterhin einfach EU-Regeln übernehmen wird, um die Wettbewerbsbedingungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich anzugleichen. Dieses umstrittene „Level Playingfield“ könne er seinen Wählern nicht verkaufen. London fürchtet, dass Standards, die mit der EU vereinbart werden, einen Einfluss auf Handelsverträge haben könnten, die Großbritannien mit anderen Nationen schließen will. Das ist das altbekannte Souveränitätsargument der Brexit-Befürworter. Diese Diskussion zeigt aber auch, was die Position von Boris Johnson in den Gesprächen massiv beeinflusst: die Gunst seiner Wähler.

Johnson hatte sich vor der Wahl im Dezember 2019 als harter Verhandler positioniert, der eher Brexit-Verhandlungen platzen lassen würde, als einen schlechten Deal einzugehen. Für Boris Johnson ist der Brexit die Einlösung eines politischen Versprechens an seine Wähler.

Europäische Brexit-Expertise: Paulina Dejmek-Hack, Direktorin der Task-Force für die Beziehungen zum Vereinigten Königreich © Hessische Landesvertretung
Schätzt die Brexit-Verhandlungen realistisch ein: Europaministerin Lucia Puttrich bereitet sich auf den „No Deal“ vor. © Hessische Landesvertretung
Das Spielfeld schafft Probleme

Bereits im Mai wagte man in der Hessischen Landesvertretung in Brüssel einen Blick in die Kristallkugel der Brexit-Verhandlungen. Paulina Dejmek-Hack, Direktorin der Task-Force für die Beziehungen zum Vereinigten Königreich, sprach am 15. Mai 2020 in einem Livestream aus der Landesvertretung über den Stand der Verhandlungen der EU-27 mit Großbritannien.

Im Gespräch  mit Moderator Hendrik Kafsack betonte Paulina Dejmek-Hack, dass es nun entscheidend sei, in den Verhandlungen voranzukommen. Verzögert werden könne dies durch das Format der Videokonferenz, da hier die Dynamik eine andere sei als im direkten Gespräch. Und auch die Prognose von Frau Dejmek-Hack, dass man vor allem bei den Themen Fischerei, Level Playing Field und Governance-Strukturen weit auseinanderliege, wurde in der Videokonferenz vom 15. Juni bestätigt. Diese roten Linien seien symptomatisch für den Verhandlungsprozess, sagte Dejmek-Hack: „Die Europäische Union ist um ein umfassendes Abkommen mit Governance-Struktur bemüht. Das Vereinigte Königreich verlangt nach sektoralen Abkommen.“

Paulina Dejmek-Hack machte deutlich, dass die Briten auch kein Interesse an einer Verlängerung der Verhandlungsphase zeigten, was sich ja in der Videokonferenz am 15. Juni bestätigte. Was bedeute, dass die Briten ab 1. Januar 2021 nicht mehr Teil des Binnenmarktes und der Zollunion sein werden, so Dejmek-Hack weiter. Sie wies darauf hin, dass sich Unternehmen in der EU, auch bei einem ambitionierten Abkommen mit dem Vereinigten Königreich, auf Veränderungen einstellen und vorbereiten müssten, da der Handel und der Austausch von Dienstleistungen mit dem Vereinigten Königreich anders ablaufen würde als bislang.

Auf einer positiven Note endete der Livestream, als Paulina Dejmek-Hack noch einmal betonte, wie klar die Geschlossenheit innerhalb der EU-27 im Zuge des Verhandlungsprozesses gewesen sei: „Da geht es ja direkt um den Binnenmarkt und der betrifft alle Mitgliedsstaaten, unabhängig davon, wie direkt ihr Austausch mit Großbritannien ist. Und ich bin zuversichtlich, dass der Binnenmarkt diese Geschlossenheit weitertragen wird.“

Ich bin zuversichtlich, dass der Binnenmarkt diese Geschlossenheit weitertragen wird.

PAULINA DEJMEK-HACK, Direktorin der Task Force für die Beziehungen zum Vereinigten Königreich

Realistische Perspektiven: Hessens Blick auf den Brexit

Auch Europaministerin Lucia Puttrich beurteilte die Perspektiven der Brexitverhandlungen Anfang Juni nüchtern, betonte aber, wie bemüht die EU-27 seien, auch bei schleppendem Verhandlungsverlauf für gute Beziehungen zu werben: „Wir werden nicht müde, für eine besondere Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich zu werben“, sagte Puttrich. „Davon hätten beide Seiten etwas. Aber gegen eingefleischte Sturheit kann man nicht verhandeln. Wir müssen uns deshalb wohl oder übel auf ein No-Deal-Szenario einstellen.“ Die Ministerin machte deutlich, dass es Ergebnisse bräuchte und man im Zweifel die Verhandlungen abbrechen sollte: „Eine ergebnislose Hängepartie würde der deutschen Wirtschaft und dem Finanzplatz Frankfurt am Main mehr schaden als nützen. Aber wir sind gut auf einen Abbruch der Verhandlungen vorbereitet. Jetzt müssen wir uns eben auf diesen Fall einstellen.“

Bei aller Vorbereitung betonte die Ministerin aber auch, dass dies eigentlich die Zeit für Kooperationen sein müsse, gerade auch vor dem Hintergrund der Coronakrise: „Angesichts der dramatischen wirtschaftlichen Entwicklung im Vereinigten Königreich wäre eine enge Kooperation mit der Europäischen Union die sinnvollste aller Optionen für Großbritannien. Der Binnenmarkt ist unsere stärkste Waffe im Kampf gegen Rezession und Arbeitslosigkeit.“

Gegen eingefleischte Sturheit kann man nicht verhandeln. Wir müssen uns deshalb wohl oder übel auf ein No-Deal-Szenario einstellen.

LUCIA PUTTRICH, Hessische Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten

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